Der Fluß
vor mir geheimhalten. Widersetze ich mich ihrem Verbot, habe ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich nicht hineingehe, begreife ich vielleicht nicht, welchen Kampf Marianne kämpft. Ihre Ärztin hat mich angerufen, hat mir versichert, daß sie nicht psychotisch ist, daß es gute Prognosen für die Behandlung gibt, daß Marianne allzulange in einer tiefen Depression steckte, ohne es selbst zu wissen, daß sie mental von einem mit massiven Schuldgefühlen verbundenen Verlust in die Knie gezwungen wurde.
Aber ist das die ganze Erklärung?
Ich öffne die Tür. Ich habe einen Entschluß gefaßt. Umkehren geht nicht mehr. Ich betrete das Zimmer. Ich sehe nichts Ungewöhnliches. Es ist ein Büroraum. Ein Schreibtisch mit Telefon, einige Aktenordner in einem Regal. Rechnungen, Journale, ein Ordner für den Verein Sozialistischer Ärzte. Auf einem Ordner steht »Marianne«.
Ich ziehe ihn heraus und setze mich damit an den Schreibtisch. Briefe aus verschiedenen Kliniken. Kopien von Epikrisen, die Jahre zurückliegen. Ich verstehe nicht alle Fachausdrücke. Aber einige Wörter treffen mich wie Faustschläge: »… Stark suizidgefährdet« »… klare Anzeichen einer Psychose« »…muß vor sich selbst geschützt werden«. Die erste ärztliche Beurteilung stammt vom November 1952. Da war sie siebzehn Jahre alt. Da hat sie abgetrieben. Herrgott, denke ich, dann hing ihr Selbstmordversuch nicht nur mit der Trauer zusammen. Dann ist ebensosehr eine depressive Störung ausschlaggebend gewesen, an der sie schon länger leidet. Dann ist alles nur noch schlimmer.
Ich stelle den Ordner zurück ins Regal. Dann stehe ich einen Augenblick unschlüssig im Zimmer. Da muß noch etwas anderes sein, denke ich. Etwas muß ich übersehen haben.
Ich versuche, auf alle Einzelheiten zu achten. Das große Foto mit allen dreien, der kleinen glücklichen Familie, vielleicht bei Anjas Konfirmation aufgenommen. Die Frauen in Tracht, sie sehen aus wie zwei junge, lächelnde Schwestern. Bror Skoog in Anzug und Krawatte. Wie glücklich war Marianne? denke ich. Wieviel wußte Anja von ihrer Krankheit? Und Bror? Es sieht ganz so aus, als würde ich seine Ängste in mein Leben übernehmen. Da ist keine Stimme in meinem Kopf, die sagt, ›mach dich aus dem Staub, Aksel, bevor es zu spät ist. Du hast das Leben vor dir‹. Statt dessen sagt die Stimme: ›Ich kann mein Leben nicht ohne sie leben.‹
Mein Blick fällt auf die Schreibtischschublade. Sie wirkt klein und unbedeutend. Ich setze mich hin und ziehe sie heraus. Eine graue Aktenmappe. Ich nehme sie mit dem unangenehmen Gefühl heraus, in Mariannes intimsten Geheimnissen zu schnüffeln. Ich öffne die Mappe. Das obenauf liegende Foto wirkt wie eine Ohrfeige. Ein Bild von Bror Skoog, aufgenommen von der Polizei gleich nach dem Schuß. Scharf und deutlich. Der halbe Kopf ist fast unverletzt. Da sieht er aus wie der distinguierte Gehirnchirurg, der einen Amazon fährt und sich mit schönen Frauen und Gegenständen umgibt. Die andere Gesichtshälfte fehlt. Und die Augen. Sie liegen neben ihm auf dem Fußboden. Wie Marianne erzählt hat.
Das nächste Bild zeigt Anja im Krankenhaus, wie ich sie gesehen habe. Aber es wurde aufgenommen, bevor man ihr die Augen zudrückte, bevor ich sie sehen durfte.
Jetzt sieht sie mich wieder an.
Ihr Blick war das Wichtigste, denke ich.
Die nächsten Bilder sind nur Abzüge mit kleinen Variationen. Mit diesen Bildern wollte also Marianne Skoog leben. Sie wollte mit dem Tod leben. Wollte die Wunden offenhalten.
Ida Marie Liljerot
Es ist der Tag vor Mariannes sechsunddreißigstem Geburtstag, an dem ich sie endlich besuchen darf, als Mariannes Mutter, die berühmte Psychiaterin, zu mir kommt. Sie hat vorher angerufen und gesagt, sie wolle mit mir reden. Ich habe angeboten, zu ihr in die Stadt zu kommen, aber sie wollte zum Elvefaret kommen, wollte sehen, wer ich bin und was ich mache.
Es hat noch nicht wieder geschneit, aber auf der Straße und in den Gärten ist Rauhreif. Es ist Abend, als es an der Tür schellt. Ich öffne und sehe ein alterndes Gesicht, das ich aus der Zeitung gut kenne. Das ist Ida Marie Liljerot, die pensionierte Psychiaterin. Ich habe sie nie als Anjas Großmutter oder Mariannes Mutter gesehen, aber jetzt erkenne ich die Ähnlichkeiten, auch wenn sie nicht so deutlich sind wie zwischen Mutter und Tochter.
»Komm rein«, sage ich.
»Danke«, sagt sie. Wir geben uns die Hand, aber das wirkt verkrampft. Ich bin zu jung, um sie umarmen zu
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