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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Lynge folgen mir in den Flur. Wieder stehen Torfinn Lynges Haare nach allen Seiten ab.
    »Armer Junge«, sagt er verwirrt
    »Jetzt bin nicht ich zu bemitleiden«, sage ich.
    »Übertreibst du nicht?« sagt Selma Lynge.

    Ohne ein Wort des Abschieds stürze ich aus dem Haus. Ich laufe den Ruglandveien hinunter und weiter abwärts Richtung Fluß. Ich muß so schnell wie möglich in den Elvefaret, denke ich. Aber jetzt ist es dunkel und glatt. Nachtfrost. Ich rutsche auf den Steinen aus. Es ist schwierig, den bekannten Weg zu finden, und ich habe keine Ahnung vom derzeitigen Wasserstand. Aber der Mond ist da, steht droben am Osthimmel. Er ist wieder fast voll.
    Der Fluß schimmert silbern. Ich bin im Talgrund. Ich sehe die schwarzen Steine. Ich muß sie mit meinen Füßen treffen.
    Zum erstenmal denke ich beim Überqueren des Flusses nicht an Mutter.
    Ungefähr auf halber Strecke gleite ich von einem Stein ab Ich verliere das Gleichgewicht, falle, die Hose wird naß, das Wasser ist eiskalt. »Verdammt«, fluche ich und rutsche weiter über die glatten Steine.
    Dann bin ich am anderen Ufer.
    Da sehe ich ihren Schal. Mitten auf dem schmalen Weg liegt er.
    »Marianne«, sage ich, als wäre sie da, »was hast du angestellt?«

    Ich schlage mich quer durchs Erlengebüsch, obwohl es viel zu dunkel ist. Ich kann zwischen den Zweigen nicht dieHand vor den Augen sehen. »Marianne«, rufe ich. »Bist du hier?«
    Aber sie ist nicht hier. Ich knalle mit der Stirn gegen einen Baum, merke, daß es blutet, aber das ist egal.
    Ihr Schal, denke ich. Verdammt noch mal, was hat sie angestellt?
    »Marianne!« rufe ich wieder. »Marianne!«
    Ich laufe weiter den schmalen Pfad hinauf zum Elvefaret. Das Blut pocht in den Schläfen. Dann bin ich oben, sehe das Haus. Drinnen brennt Licht. Die Tür steht offen. Weit und einladend.
    Ich renne ins Haus.
    »Marianne!« rufe ich. »Marianne!«
    Ich schaue in die Küche. Ich schaue ins Wohnzimmer. Ich überlege, in die obere Etage zu gehen, in das verbotene Zimmer. Aber das ist verkehrt. Sie ist im Keller. Natürlich ist sie im Keller! Ich haste nach unten, stolpere auf der Treppe, schramme mir das Knie an der Mauer auf, es tut weh. Und ich rufe nicht mehr. Die Beine zittern. Denn ich weiß, daß sie da unten ist. Natürlich ist sie da unten. Das Licht zur Kellertreppe brennt.
    Ich reiße die Tür zu dem Raum mit der Tiefkühltruhe auf. Mich schaudert.
    Sie steht auf einem Schemel. Sie hat das türkisfarbene Kleid ausgezogen, steht da im BH. Sie starrt mich an, mit verzerrtem Gesicht, ohnmächtig und böse.
    »Was willst du mit dem Strick?« brülle ich sie wütend an, als wäre sie weit entfernt. »Was willst du mit dem Strick?«

3. Teil
Das verbotene Zimmer
    In der ersten Woche von Mariannes Klinikaufenthalt verlasse ich kaum das Haus. Ich darf sie jetzt, am Anfang der Behandlung, nicht anrufen. Dafür ruft mich Selma Lynge jeden Abend an. Sie ist erschüttert und besorgt, und dabei denkt sie ebensosehr an mich wie an Marianne. Ich merke, daß sie versucht, mich zu beeinflussen, daß sie mich dazu bringen will, meine Lebenssituation zu überdenken, herauszufinden, ob es richtig ist, mich so stark an eine Frau zu binden, die zum einen viel älter ist als ich und die eine so schreckliche Geschichte mit sich herumschleppt. Ich höre sie an, weiß, daß sie es gut meint. Egal, was sie vorbringt, es gelingt ihr nicht, mich umzustimmen. Ich will nicht weg. Ich will da sein, wo Marianne ist. Und wenn ich da nicht sein kann, will ich wenigstens in dem Haus sein, in dem sie wohnt.

    Es ist so leer ohne sie. Und es gelingt mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich sitze jeden Tag sechs bis sieben Stunden am Klavier. Dabei benütze ich Anjas Flügel wieder nur zur Perfektionierung der Lauftechnik. Das einzige, was ich zustande bringe, ist das Üben von Etüden. Da muß ich nicht denken. Ich gleite hinein in eine merkwürdige Leere.
    Ich wußte nicht, daß man sich so stark an einen Menschen binden kann, sich so sehr um jemanden sorgen, so krank vor Sehnsucht sein kann.
    Das Haus ist so still ohne sie. Am Abend lege ich ihre Joni-Mitchell-Platten auf, koche mir eine Tasse Tee und rolle mich auf der Couch zusammen, wie es ihre Gewohnheit war. Aber es ist nicht das gleiche ohne sie. Sogar die Musik verändert sich.
    Am Ende der ersten Woche stehe ich auf einmal vor dem verbotenen Zimmer und überlege, ob ich hineingehen soll. Eine schwierige Entscheidung. Schließlich hat Marianne es mir untersagt. Sie will etwas

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