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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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dem Lineal übel zugerichtet hat. Ich fühle mich wohl in diesem Haus. Und ich merke, daß die zunehmende Achtung, die die zwei Frauen voreinander haben, mir Stärke gibt, jedenfalls ein bißchen Sicherheit, daß das Leben, das Marianne Skoog und ich weiterhin leben werden, sinnvoll sein kann. Sie hat uns allen heute Vertrauen entgegengebracht, denke ich. Sie hat ihre Geschichte fertig erzählt. Und selbst wenn es mich verwirrt, daß sie Selma und Torfinn Lynge zu ihren Vertrauten machte, erscheint es richtig. Auch Selma Lynge hatte in gewisser Weise eine Verantwortung für Anjas Tod.

    Dann gibt es nichts mehr zu sagen. Dann ist der Kaffee getrunken. Wir könnten jetzt nach Hause gehen. Aber Selma Lynge ist in Festlaune.
    »Können wir nicht eine Platte auflegen?« sagt sie.
    Marianne Skoog gefällt der Vorschlag. »Gute Idee«, sagt sie. »Aksel und ich haben unseren eigenen kleinen Plattenclub im Elvefaret.«
    Der Klang ihrer Stimme beunruhigt mich. Das ist nicht ihre normale Tonart.
    »Ich möchte anfangen«, sagt Selma Lynge lächelnd. »Von Emil Gilels gibt es eine phantastische Einspielung von Brahms’ B-Dur-Konzert. Aksel hat doch eine besondere Vorliebe für ihn.«
    »Musik der Vergangenheit«, sagt Marianne Skoog ruhig. »Die kennen wir bestens. Hast du nichts von Joni Mitchell?«
    »Mitchell?« sagt Selma Lynge unsicher. »Eine Pianistin?« »Nein, eine Liedermacherin«, sagt Marianne Skoog.
    »Nie von ihr gehört«, sagt Selma Lynge bedauernd.
    »Dann laß uns Brahms hören«, sagt Marianne Skoog. »Das Verläßliche und Bekannte. Anja liebte Brahms. Bror liebte Brahms. Liebst du nicht auch Brahms, Aksel?«
    Ich nicke.
    Selma geht zum Plattenspieler. Torfinn Lynge entzündet eine zusätzliche Kerze. Jetzt wird es feierlich. Mit Musik soll all das Schreckliche, das erzählt worden ist, verarbeitet werden.
    »Brahms«, sagt Selma Lynge zufrieden und mit Nachdruck.

    Wir sitzen jeder auf seinem Stuhl, sind müde und betrunken. Nur Marianne Skoog sitzt mit leuchtenden Augen da und beobachtet uns.
    Es knistert, als die Nadel auf der Vinylplatte aufsetzt.
    Dann kommt die herrliche Eröffnung. B-Dur. Gilels. Sonnenaufgang.
    Ich bin müde. Ich schließe die Augen und höre zu. Spüre, wie sich die aufgeregten Nerven beruhigen. Ich höre, daß Gilels die nötige Schwere hat.
    Kurz darauf flüstert mir Marianne Skoog ins Ohr: »Ich muß aufs Klo.«
    Ich öffne die Augen. Ich sehe, daß Selma und Torfinn mit geschlossenen Augen dasitzen. Sie hören uns nicht.
    Ich nicke nur.
    Sie schaut mich liebevoll an. Schneidet eine fröhliche Grimasse.
    Dann schließe ich die Augen wieder.

    Ich habe zuviel getrunken. Bier aus Bayern. Korn. Das ist ungewohnt. Ich bin müde und betrunken. Ich schlafe ein.Im nachhinein könnte ich nicht mehr sagen, ob ich das Scherzo gehört habe. Ich erwache am Anfang des dritten Satzes. Mitten in dem wunderbaren Cello-Solo.
    Ich blicke mich um. Selma und Torfinn Lynge sitzen immer noch mit geschlossenen Augen da, entweder tief schlafend oder äußerst ergriffen von der Musik. Aber wo ist Marianne Skoog? Ihr Stuhl ist leer.
    Ich schaue auf die Uhr. Mitternacht ist längst vorüber. Es fährt keine Straßenbahn mehr zurück in die Stadt. Sie kann doch nicht so lange auf dem Klo sitzen?
    Ich stehe leise auf, damit es die anderen nicht merken. Ich gehe hinaus zur Toilette, klopfe an die Tür.
    Da ist niemand.

    Erst da dämmert mir etwas. Erst da begreife ich, daß mir Marianne Skoog eine Chance gegeben hat, eine winzig kleine Chance, sie zu finden, bevor es zu spät ist. Ich reiße die Tür zum Wohnzimmer auf. Ich renne zum Plattenspieler, treffe den Tonarm mit Schwung, mache einen gräßlichen Kratzer in die Platte.
    »Wo ist Marianne?« sage ich. Und ich höre mich zum erstenmal Marianne sagen. Nur ihren Vornamen. Das wirkt so intim.
    Selma und Torfinn Lynge schrecken aus ihrem heimlichen Schlaf auf.
    »Marianne?« sagt Torfinn Lynge und starrt desorientiert um sich.
    Sie ist nicht da. Ich rechne nach. Als sie aufs Klo verschwand, hatte das Konzert gerade begonnen. Jetzt waren wir in der Mitte des dritten Satzes. Da muß fast eine halbe Stunde vergangen sein.
    »Beruhige dich«, sagt Selma Lynge und schaut mich besorgt an. »Wovor hast du eigentlich Angst?«
    Ja, wovor habe ich Angst, denke ich und renne hinaus in denFlur, finde meinen Mantel und weiß, daß Marianne Skoog dieses Haus verlassen hat, daß ich hinter ihr her muß, daß etwas Fürchterliches passieren wird.
    Selma und Torfinn

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