Der Frauenhaendler
er die Augen.
»Co…bianchi.«
Das ist sein letztes Wort.
Blitzartig steigt eine Welle der Übelkeit aus meinem Magen hinauf in meine Kehle. Ich stehe auf, trete einen Schritt beiseite und klappe vornüber wie die Klinge eines Schnappmessers, die einrastet.
Und übergebe mich.
Lange, schmerzhafte Krämpfe scheinen mir Magen und Kopf entzweizureißen. Danach bin ich in kalten Schweiß gebadet. Es tut mir leid, dass meine Trauerrede für Daytona in einem Würgen bestand, das die chinesischen Teigtaschen in Form eines säuerlichen Breis wieder ans Tageslicht befördert hat.
Ich nehme mein Taschentuch und wische mir den Mund ab.
Nun sehe ich, dass er noch seine kostbare Daytona am Handgelenk hat, jene, an der sich die verschiedenen Phasen seines Lebens ablesen ließen und die ihn, mehr noch als Vor- und Nachname beim Meldeamt, als Teil eines bestimmten Mailänder Milieus auswies. Ich streife sie ihm vom Arm, stecke sie in die Jackentasche und denke, dass jetzt nichts anderes von ihm noch schlägt als diese Uhr. Bei nächster Gelegenheit werde ich sie dieser armen Frau, die seine Mutter ist, zukommen lassen. Mit ihr eint mich ein unerfreuliches Schicksal: auf brutale Weise erfahren zu müssen, wer ihr Sohn tatsächlich war.
Das bisschen Geistesgegenwart, über das ich noch verfüge, legt mir nahe, so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Unwillkürlich muss ich denken, dass ich, wenn ich ein wenig eher gekommen wäre, vielleicht jetzt neben Daytona auf dem Boden liegen würde. Dass langsam Wärme und Farbe aus mir weichen würden. Ich werfe einen letzten Blick auf die Leiche des Mannes, den ich für einen Freund gehalten habe, ohne mir klarzumachen, dass es so etwas eigentlich nicht gibt. Ein armer, jämmerlicher Kleinkrimineller, der aber trotz allem vielleicht nicht verdient hat, was mit ihm geschehen ist. Ich gehe und lasse ihn auf dem Boden dieses Scheißorts liegen, wo sich seine Kleidung langsam mit seinem Blut vollsaugt. Die kommende Nacht wird vielleicht die erste seit vielen Jahren sein, in der er nicht bis zum Morgengrauen durchmacht.
Und nach der er am Nachmittag nicht aufwacht.
Ich gehe zur Treppe und schlage den Weg ein, der mich zu meinem Mini zurückführt. Ich steige ein, starte den Motor und verlasse dieses Haus mit seiner Aura von Verwahrlosung, verschwendeter Zeit und Tod. Der Schüttelfrost ist schlimmer geworden, das Brennen wütet weiterhin in meinem Unterleib, und obwohl ich mich übergeben habe, ist auch die Übelkeit geblieben. Es kommt mir vor, als wäre mein Magen mit Schaum gefüllt.
Ich fühle meine Stirn. Sie glüht. Vielleicht ist es Einbildung, vielleicht ist es Fieber, vielleicht ist es die Reaktion meines Körpers, weil er Daytonas Todeskampf miterleben musste. Vielleicht ist es der Preis der Angst, weil ich mich vorwärtstaste, ohne etwas von dem zu verstehen, was um mich herum geschieht.
Dies ist nicht eines der Spielchen zwischen mir und Lucio, nicht der Austausch einer Feile zwischen zwei gefangenen Geistern, die in einem Körper stecken, der sie widerwillig duldet. Ich habe das Gefühl, dass es sich hier um das letzte Rätsel handeln könnte, dessen Lösung vielleicht noch schlimmer ist als das Rätsel selbst.
Ich bin ein kleiner Krieger, alleine, verschreckt und von der Angst geplagt, im Dunkeln zu sterben.
Die Umgehungsautobahn erreiche ich über dieselbe Straße, auf der ich gekommen bin, ohne mich aber noch einmal in die Stadt hineinzubegeben. Bedachtsam ziehe ich es vor, nicht zweimal an denselben Fenstern und Höfen vorbeizufahren. Während des gesamten Heimwegs verfolgt mich Daytonas letztes Wort, geflüstert von einer Stimme, die schon aus dem Jenseits zu kommen schien.
Cobianchi.
Was zum Teufel hat das Cobianchi mit der Sache zu tun?
Das Cobianchi ist ein Tageshotel südlich von der Via Silvio Pellico, in der Galleria del Duomo. Ein anderes befindet sich an der Piazza Oberdan, an der Porta Venezia. Man kann dort duschen oder baden, sich rasieren oder sich maniküren lassen, telefonieren, an der Bar eine Pause einlegen oder sein Gepäck abstellen. Die beiden Hotels gehören zu einer Kette von ähnlichen Einrichtungen, die Anfang der Zwanzigerjahre in vielen großen Städten wie Mailand, Bologna, Turin, Rom und Neapel von einem Industriellen eröffnet wurden. Da Badezimmer in Privatwohnungen damals noch nicht sehr verbreitet waren, haben viele Menschen sie als öffentliche Bäder benutzt. Durch die Verwendung edler Materialien und die gepflegte
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