Der Frauenheld
Ästen, wo der Boden nackt war, geharkt und feucht und gepflegt. Er bewegte sich mit eingezogenem Kopf schnell vorwärts. Er rief Leos Namen, aber sah ihn nicht, obwohl er eine Bewegung wahrnahm, ein unbestimmtes Flirren von Blau und Grau, etwas hörte, was vielleicht Schritte auf dem weichen Boden waren, und dann hörte er tatsächlich jemanden rennen, wie ein großes Tier, das vor ihm floh und durch die verschlungenen Äste brach. Er hörte Gelächter von jenseits der Taxushecke, wo sich eine weitere große Rasenfläche öffnete – die Stimme eines Mannes, der lachte und französisch sprach, außer Atem geriet und rannte, alles gleichzeitig. Lachend, dann wieder redend, und dann wieder lachend. Austin bewegte sich auf die Stelle zu, wo er das Flirren von Blau und Grau gesehen hatte – die Kleider von irgend jemandem, dessen Flucht er bezeugt hatte, dachte er. Zwischen den dicken Wurzeln und den buschigen Stämmen des Taxus stieg der strenge alte Geruch von Pisse und menschlichen Exkrementen auf. Papier und Abfall lagen in der Fäulnis verstreut. Von außen hatte es kühl und einladend gewirkt, ein Platz, wo man ein Nickerchen machte oder sich liebte.
Leo war da. Genau da, wo Austin die Kleidung im Unterholz hatte aufblitzen sehen. Er war nackt, saß auf der feuchten Erde, seine Kleidung, die man ihm hastig vom Leib gerissen und beiseite geschleudert hatte, lag um ihn herum verstreut. Er sah zu Austin auf, seine Augen waren schmal und aufmerksam und dunkel, er hatte seine kleinen Füße ausgestreckt, seine Beine waren verschmutzt und zerkratzt, seine Brust und seine Arme zerkratzt. Auf seinen Wangen war Dreck. Seine Hände lagen zwischen den Beinen, nicht um etwas zu bedecken oder zu schützen, sondern bloß schlaff, als hätten sie keinen Zweck. Er war sehr weiß und sehr still. Sein Haar war immer noch ordentlich gekämmt. Doch als er Austin sah und sah, daß es Austin war und nicht irgendein anderer, der auf ihn zukam, mit wahnsinnigem Blick und rasselndem Atem, gebückt, stolpernd, mit ausgebreiteten Armen durch die Taxuszweige und Stämme und Wurzeln dieses verborgenen Ortes brechend, stieß er einen schrillen, hoffnungslosen Schrei aus, als ob er sehen konnte, was als nächstes kam und wer es sein würde, und als ob es ihn in Panik versetzte. Und dieser Schrei war alles, was er tun konnte, um die Welt wissen zu lassen, daß er sich vor seinem Schicksal fürchtete.
8 In den folgenden Tagen sollte es eine große Diskussion um diesen Fall geben. Die Polizei führte mit Hilfe der Medien eine umfassende Suchaktion nach der Person oder den Personen durch, die den kleinen Leo verschleppt hatten. Es gab keine Indizien, aus denen man folgern konnte, daß er sexuell mißbraucht worden war, nur dafür, daß er von jemandem ins Gebüsch gelockt, arg zugerichtet und erschreckt worden war. Eine kleine Meldung erschien auf den letzten Seiten von Le Monde , und Austin bemerkte, daß die gesamte Polizei das Wort moleste benutzte, wenn sie sich auf den Vorfall bezog, als wäre es das erwiesenermaßen adäquate.
Es wurde allgemein angenommen, daß der Täter in der Gruppe von Hippies zu finden war, die er von Josephines Fenster aus gesehen hatte. Es hieß, daß sie im Park lebten und in dem Gebüsch, in den Taxus- und Buchsbaumhecken, schliefen und daß einige von ihnen Amerikaner seien, die seit zwanzig Jahren in Frankreich lebten. Aber als die Polizei sie zur Gegenüberstellung vorlud, schien keiner von ihnen der Mann zu sein, der Leo erschreckt hatte.
Nach dem Vorfall gab es bei der Polizei sogar einige Stunden lang den Verdacht, daß Austin selbst Leo mißbraucht und den Wärter nur angesprochen hatte, um von sich abzulenken, nachdem er mit dem kleinen Jungen fertig gewesen war – im Vertrauen, daß das Kind ihn nie anklagen würde. Austin hatte verständig und mit Geduld erklärt, daß er Leo nicht mißbraucht hatte und niemals so etwas tun würde, hatte aber eingesehen, daß er zu den Verdächtigen gezählt werden mußte, bis er entlastet wurde – was nicht vor Mitternacht geschah, als Josephine in die Polizeiwache kam und aussagte, daß Leo ihr erklärt habe, Austin sei nicht der Mann, der ihn erschreckt und ausgezogen habe – daß es jemand anderes gewesen war, ein Mann, der französisch sprach, ein Mann in blauer und möglicherweise grauer Kleidung mit langen Haaren und einem Bart.
Nachdem sie diese Geschichte erzählt hatte und Austin erlaubt worden war, die muffige, fensterlose Polizeizelle zu verlassen, in
Weitere Kostenlose Bücher