Der Frauenjäger
zwei Häuser weiter. «Was tut sie denn so lange bei dem Mann?»
«Seine Frau ist wieder weg», erklärte Marlene. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte Julia zum Nachbarn geschickt. «Kann sie nicht schnell gehen? Ich kenne doch Herrn König gar nicht.»
«Willst du lieber hier nach einem Hammer suchen?», fragte Werner. «Heidrun Merz und Mona Thalmann kanntest du auch nicht und konntest trotzdem drei Stunden lang über die beiden sprechen. Bei Herrn König musst du nur klingeln und Karola herausbitten, damit ich mit ihr reden kann. Sag einfach, der Kaffee wäre fertig.»
So einfach, wie er sich das vorstellte, war es nicht. Ein Junge von sieben oder acht Jahren kam an die Tür, nachdem Marlene dreimal geklingelt hatte. Sein Gesicht war ebenso dreckig wie sein T-Shirt . Dazu trug er nur ein Unterhöschen, und das wohl seit Tagen. Seine nackten, dünnen, von Schrammen und blauen Flecken übersäten Schienbeine waren erbarmungswürdig.
«Ist Frau Jäger hier?», fragte Marlene.
«Bei Papa», sagte der Junge, drehte sich um, trottete vor ihr her durch den schmalen, aber hell erleuchteten und verschwenderisch beheizten Flur und präsentierte ihr das fleckige Hinterteil seines Höschens und die mageren Waden.
Sie folgte ihm in eine Küche, wie man sie gelegentlich in Karikaturzeichnungen sah. Es war noch wärmer als im Flur. Und das schmutzige Geschirr türmte sich zu Bergen auf jeder Abstellfläche, dem Herd und der Spüle. Auf der Fensterbankstanden verdreckte Gläser, von außen übersät mit braunen, roten oder fettigen Fingerabdrücken, innen verklebt mit Getränkeresten. In einigen wucherten Schimmelkulturen.
Karola saß an einem Tisch, der seit Tagen nicht abgeräumt, geschweige denn abgewischt worden sein konnte. Es standen mehrere offene Gläser mit verschiedenen Konfitürensorten und Nuss-Nougat-Cremes zwischen einem offenen Margarinebecher, einem aufgerissenen Päckchen Salami, die sich an den Kanten bereits wellte, und einem Stück Leberwurst mit graugrüner Schnittkante.
Es war ekelerregend. Marlene unterdrückte nur mit Mühe den Würgereiz. Am schlimmsten war noch die dicke Fliege, die bei dem reichhaltigen Nahrungsangebot gute Chancen hatte, den gesamten Winter zu überleben.
Der Junge verscheuchte das Vieh von einem angebissenen Brot mit Salami. Und dann biss er in das Brot. Im Stehen. An dieser Müllhalde von Küchentisch. Und das war Realität. Es gab keine offenen Fragen bei diesem Anblick und keine Zweifel am Wahrheitsgehalt. Die graugrüne Schnittkante der Leberwurst warf einem die Wahrheit förmlich ins Gesicht.
Karola kümmerte sich weder um den Dreck ringsum noch um die vor sich hin gammelnden Lebensmittel. Sie fühlte sich auch nicht gestört von der Fliege, die zwei tiefe Runden über dem Tisch drehte, nachdem der Junge sie von seinem Brot verscheucht hatte. Dann ließ das fette Vieh sich mit seinen borstigen Beinen unmittelbar vor Karola auf einem undefinierbaren Fleck nieder.
Karola bedeutete Marlene, deren Eintreten sie wohl am Rande registriert hatte, sich still zu verhalten, und blieb auf den Mann konzentriert. Herr König hockte vor einem auf dem schmierigen Fußboden sitzenden kleinen Mädchen und bemühte sich, die Schnürsenkel in den Kinderhalbschuhen zu lösen. Halbschuhe! Im Haus mochte das angehen. Aber draußen, bei derKälte und dem Schnee. Und den Schuhen sah man an, dass das Kind damit draußen herumgelaufen war.
Das Mädchen mochte sechs Jahre alt sein, hielt ebenfalls ein angebissenes Salamibrot in der Hand, kaute langsam und bedächtig und war genauso dreckig wie der Junge.
Und Herr König, den Marlene auf Ende dreißig schätzte, trug ein schneeweißes Hemd mit blau-grau gestreifter Krawatte zu einer dunkelgrauen Hose mit messerscharfen Bügelfalten. Über der Rückenlehne eines Stuhles am Tisch hing ein pieksauberes, dunkelgraues Jackett. Einen krasseren Gegensatz hätte es nicht geben können.
«Ich kenne mich nicht besonders gut aus damit», sagte Herr König, ohne aufzuschauen. Für Marlene klang es, als meine er die Schnürsenkel in den Schuhen seiner Tochter. Er schaffte es nicht, die aufzuknoten, zog und zupfte nur sinnlos daran herum.
«Sie war ziemlich laut», sagte er und machte damit klar, dass er von etwas anderem sprach. «Sonst hätte ich es vermutlich gar nicht gehört. Ich hatte fest geschlafen, bin von dem Lärm aufgewacht. Eigentlich müssten Sie es auch gehört haben.»
«Leider nicht», sagte Karola.
Herr König richtete sich auf und
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