Der Frauenjäger
Schädel, in der Übelkeit und der ersten Panik entgangen war. Auf dem Weg ins Freie musste es ja irgendwann mal heller werden. Aber da war nichts, absolut nichts.
Sie fingerte erneut das Zündholzbriefchen aus der Jackentasche und riss mit steifen Fingern den dritten Pappstreifen heraus, um nun Ausschau nach Reifenspuren oder Sohlenabdrücken zu halten. Die Reibefläche war von den vorherigen Versuchen schon arg in Mitleidenschaft gezogen. Diesmal musste sie fünfmal hin- und herstreichen, ehe es hell wurde.
Das Ergebnis war niederschmetternd. Sie sah nicht viel mehr als die Kuhlen rundum, die glibberige Lache nahe ihrer linken Hüfte und ein paar verschieden geformte lose Steine in unmittelbarerNähe. Einer sah fast aus wie ein Faustkeil aus der Steinzeit und ließ ihre Gedanken kurz abschweifen. Ob hier unten mal Menschen gelebt hatten? Steinzeitmenschen? Neandertaler. Die hatten schon gewusst, wie man Feuer machte.
Damit war sie wieder bei der Sache. Sie brauchte etwas, das länger und heller brannte als so ein mickriger Streifen gepresster Pappe. Damit sie länger als ein paar Sekunden Ausschau nach Spuren von Rädern, Rollen, Schuhsohlen oder sonst etwas halten konnte, das ins Freie führte.
Sehnsüchtig dachte sie an ihre Handtasche. Eine Tasche hatte sie immer dabei, wenn sie das Haus verließ. Sie war vollständig und warm genug für einen längeren Aufenthalt im Freien angezogen, folglich musste sie es aus eigener Kraft und aus eigenem Antrieb verlassen haben. Kein Mistkerl hätte sich die Mühe gemacht, ihr ein T-Shirt und einen Pullover anzuziehen. Daraus zog sie den Schluss, dass sie nicht in ihren eigenen vier Wänden betäubt worden war.
Dann konnte es nicht passiert sein, nachdem sie Leonard samt Rucksack und Sporttasche beim Gymnasium abgeholt hatte. Wer wollte denn einen Zeugen, der erklären konnte: «Als Mama und ich nach Hause kamen …»
Dass sie vorher auf dem Weg zum Gymnasium außer Gefecht gesetzt worden war, kam ihr auch unwahrscheinlich vor.
Demnach konnte gestern nicht Freitag gewesen sein. Donnerstag, dachte sie wie eine Beschwörungsformel. Gestern war Donnerstag. Heute muss Freitag sein. Werner ist noch in Straßburg. Wenn er nach Hause kommt, wird er dafür sorgen, dass ich …
Aufträge konnte man schließlich auch telefonisch erteilen. Das war sogar ratsam, wenn man selbst nicht in der Nähe sein wollte, um über jeden Verdacht erhaben zu bleiben. Sie empfand es als entsetzlich, so zu denken und daran festzuhalten.Aber es war um Längen beruhigender, als die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Mistkerl ohne Werners Wissen handelte.
Wie auch immer: Sie mochte mal ohne Schlüssel in die Garage stürmen, ihre Handtasche vergaß sie nie. Und darin befand sich ihr Schlüsselring mit dem Autoschlüssel, dem Christophorus-Anhänger von Scheidweber & Co und der kleinen LE D-Lampe . Die war kaum länger als ein Zeigefinger, aber dieser grelle, weiße Lichtstrahl hätte die Finsternis hier unten wie ein Schwert durchschnitten. Verständlich, dass der Mistkerl ihr die Tasche weggenommen hatte.
Und wenn sie ihre Alltagstasche mitgenommen hatte, wovon sie ausging, hätte sie höchstwahrscheinlich auch zwei oder drei Zuckertütchen und ein paar Kekse gegen den Hunger gefunden, ansonsten nur Puderdose und Lippenstift.
Dass ihr ersatzweise Zündhölzer und Bonbons in die Taschen gesteckt worden waren, hatte bei aller Gemeinheit noch etwas Tröstliches. So wie der Glaube an einen Gott etwas Tröstliches hatte, selbst wenn man an einen strafenden Gott glaubte, der seine Weisheiten für die einzig wahre Lehre hielt.
14. Januar 2010 – Donnerstagabend
Es war fast neun, als Marlene und Werner das Haus verließen und zu Karola fuhren. Sie nahmen seinen Wagen. Julia öffnete ihnen und machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. «Ich dachte, es wäre Mutti, sie hat keinen Schlüssel mitgenommen.»
Karola hatte am Nachmittag ihre Tasche abgestellt und gebeten, Julia solle Kaffee aufsetzen und die Tasche ausräumen. «Ich hab uns Schnecken mitgebracht, gleich machen wir es unsgemütlich und reden über das, was Frau Merz gestern Abend gesagt hat.» Dann hatte Karola das Haus mit dem Hinweis «Ich muss nur mal kurz zu Herrn König» wieder verlassen.
Werner ließ sich von Julia das Problem mit der Kellertür erläutern, schaute sich die Sache an, beauftragte Julia mit der Suche nach einem Hammer und verlangte von Marlene, Karola bei Herrn König herauszuholen. Der wohnte nur
Weitere Kostenlose Bücher