Der Frauenjäger
ein Neandertaler hierhergebracht hatte, um das wärmende Feuer für seine Sippe damit zu füttern. Neandertaler waren sehr fürsorglich gewesen, das wusste sie aus dem Geschichtsunterricht der Kinder.
Warum ihr erneut Neandertaler wichtig erschienen, wusste sie nicht. Sie kam mal wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen. Aber es hatte etwas Tröstliches, sich vorzustellen, wie eine Neandertalersippe in so einer Mulde ums Feuer gesessen hatte. Dann waren die Männer losgezogen, um zu jagen …
Es konnte nicht weit sein von hier ins Freie. Die wären nicht so blöd gewesen, unnötige Wege zu laufen. Die hatten ja auch nicht gewusst, wann sie das nächste Mal etwas zu essen bekamen. Die hatten mit ihren Kräften haushalten müssen.
Ehe sie diesmal das Zündholzköpfchen über die Reibefläche riss, tastete sie nach einer Stelle, die noch nicht völlig abgenutzt war. Es brauchte trotzdem drei Versuche. Als das Köpfchen aufloderte, atmete sie erleichtert durch.
14. Januar 2010 – Donnerstagabend
Dass Werner nicht längst Julia geschickt hatte, um ihre Mutter und Marlene bei Herrn König abzuholen, lag wahrscheinlich an dem Brocken, den Marlene ihm vor ihrem Aufbruch hingeworfen hatte. Dem Blick nach zu urteilen, mit dem er sie betrachtete, als sie mit Karola im Schlepptau endlich zurückkam, hatte er an ihrer Traurigkeit tüchtig zu knabbern.
Aber vielleicht lag es auch daran, dass in der Zwischenzeit Annette erschienen war. Sie saßen zu dritt im Wohnzimmer. Annette hatte bereits getan, was Karola bei Kaffee und Hefeschneckenhatte tun wollen: Julia erklärt, dass mit Andy, dem Jäger, keinesfalls ihr Vater gemeint gewesen sei. Nur ein Joke, weil Mutti mit ihrer Sendung nervte. Aus Annettes Mund hatte das entschieden glaubwürdiger geklungen, als wenn Karola sich selbst um eine Beschwichtigung bemüht hätte. Es hatte nur den Nachteil, dass Werner mitgehört hatte. Doch vorerst verlor er darüber kein Wort. Es gab Wichtigeres.
Werner und Julia wussten bereits, wo Annette vor ihrem Erscheinen im Hause Jäger eine Limo getrunken und was sie bei der Gelegenheit erfahren hatte. Kurz vor sechs hatte die Blonde in der Bücherstube angerufen, die Marlene am vergangenen Nachmittag beim Gläsertransport geholfen hatte. Arndt hieß sie, ihren Vornamen hatte sie Annette nicht verraten, nur um ein Gespräch unter vier Augen gebeten und einen Treffpunkt vorgeschlagen.
Frau Arndt war alleinerziehende Mutter, hatte einen zwölfjährigen Sohn und zwei Jobs, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Mit Steuerkarte arbeitete sie in einem Discountmarkt, ohne Karte hinterm Tresen «Bei Jogi», einer Gaststätte, die Marlene vom Hörensagen kannte. Den besten Ruf hatte die Kneipe nicht.
Annette bestätigte das mit den Ausdrücken schmuddelig und so schummrig, dass man nicht sah, ob das Glas, das einem vorgesetzt wurde, sauber war. Und ein Gespräch unter vier Augen war es nicht gewesen. Vierzehn Kneipengäste hatten sich nach kurzer Musterung einer Unbekannten – Annette war vorher noch nie «Bei Jogi» gewesen – wieder ihren Gläsern, Skatrunden oder Knobelbechern zugewandt. So hatte Frau Arndt doch
ganz im Vertrauen
loswerden können, was sie für wichtig hielt.
Nach der gestrigen Lesung hatte Frau Arndt ebenso «Bei Jogi» gearbeitet wie heute. Und zwischen halb zehn und zehn am vergangenen Abend war Heidrun Merz in der Kneipe aufgetaucht.Auf die Uhr hatte Frau Arndt nicht geschaut, es war viel zu tun gewesen. Sie konnte auch nicht auf die Minute sagen, wie lange die Autorin geblieben war – eine Stunde etwa. Aber dass Heidrun Merz in der Zeit einen Gin Tonic und zwölf Kurze getrunken hatte, wusste Frau Arndt ganz genau. Sie hatte die Zeche abgerechnet, weil der Gastwirt sich an einen Tisch gesetzt hatte, um mit ein paar Stammgästen zu würfeln. Von dort aus hatte er noch mit Heidrun Merz über den Verkauf einer Flasche Gin verhandelt. Achtzig Euro hatte die Autorin dafür hinblättern müssen.
«Man kann doch einer betrunkenen Frau nicht noch zusätzlich eine Flasche Schnaps verkaufen», entrüstete Marlene sich.
«Geschäft ist Geschäft», meinte Werner trocken. «Sie wird kaum betont haben, dass sie unterwegs noch etwas trinken will. Es hätte auch ein Mitbringsel für irgendwen sein können. Jogi wird sich gedacht haben, wenn ich ihr nichts verkaufe, fährt sie zur Tankstelle. Esso hat bis um zwei auf.»
«Verkaufen die etwa auch Schnaps?», fragte Marlene ungläubig. Sie hatte noch nie auf das
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