Der Frauenjäger
Warensortiment in den Regalen vor der Kasse geachtet. «An einer Tankstelle? Das müsste verboten werden.»
«Es müsste vieles verboten werden», sagte Werner lakonisch. «Die Leute würden es trotzdem tun. Wahrscheinlich stank das Auto deshalb so. Die Flasche dürfte bei dem Unfall zu Bruch gegangen sein.»
Karola hörte mit unbewegter Miene zu.
«Was für Kurze hat sie denn getrunken?», wandte Marlene sich wieder an Annette.
«Was weiß ich.» Annette zuckte mit den Achseln. «Korn, Wodka, wahrscheinlich Gin. Den hat sie ja auch mitgenommen. Ich habe nicht nachgefragt. Sie muss das Zeug runtergekippt haben wie Wasser und soll trotzdem einen nüchternen Eindruck gemacht haben, als sie ging. Es sei ihr nicht mal peinlichgewesen, in der Frau hinter der Theke eine aus dem Publikum ihrer Lesung zu erkennen, meinte Frau Arndt.»
«Das ist typisch für Alkoholiker», warf Werner dazwischen. «Unsereiner lallt und schwankt, wenn er voll ist. Die fangen an zu zittern und bringen keinen zusammenhängenden Satz mehr heraus, wenn sie nüchtern werden. Aber wenn der Pegel stimmt, kümmert es sie nicht mehr, ob eine Audienz beim Papst oder der Königin von England ansteht oder ob nur jemand aus dem Fanclub ihren Weg kreuzt.»
Annette fixierte ihn sekundenlang. Ihr Ton sollte wohl spöttisch klingen, aber da schwang etwas mit, das nach unterdrückten Tränen klang: «Was du alles weißt. Wann warst du denn mal so voll, dass du auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kannst?»
Sie wandte sich wieder Karola zu. «Frau Arndt hat während ihrer Frühstückspause deinen Aufruf gehört. Aber im Laden dürfe sie nicht telefonieren, sagte sie. Ich nehme an, sie hat erst mal überlegt, ob sie überhaupt etwas unternehmen soll. Bei der Polizei wollte sie sich auf keinen Fall melden. Wenn bekannt würde, dass sie noch einen Nebenjob hat, bekäme sie Ärger, meinte sie. Ich soll entscheiden, ob ich das weitergebe. Und ich soll sie raushalten. Ich könnte ja erklären, ich hätte einen anonymen Hinweis bekommen. Oder ich wäre gestern Abend
Bei Jogi
vorbeigefahren und hätte den Peugeot gesehen.»
«Wozu?», fragte Karola. «Mit einer Falschaussage machst du dich strafbar. Du hast nichts gesehen. Du musst nichts melden.»
«Doch», widersprach Annette, und nun schwamm ihre Stimme in den Tränen, die sie nicht fließen lassen wollte. «Ich muss, weil es meine Schuld ist. Ich hab mit dem Sekt den Anstoß gegeben. Aber verdammt nochmal, ich wusste nicht, dass sie ein Alkoholproblem hatte.»
Sie schaute wieder Marlene an. «Das habe ich erst gehört, nachdem wir beide heute Nachmittag telefoniert hatten. Danachhabe ich Josch Thalmann angerufen. Ich wollte ihm sagen, wie leid mir das tut, dass wir uns den Unfall nicht erklären können. Und er sagte, er hätte seit Monaten befürchtet, dass so etwas passiert. Sie hätte dieses Buch nie schreiben und erst recht nicht öffentlich damit auftreten dürfen. Bei jeder Lesung hätte er damit gerechnet, dass sie nicht heil zurückkommt. Nicht, weil sie bedroht wurde. Davon wusste er gar nichts. Der Einzige, der ihr gedroht habe, nämlich damit, sie vor die Tür zu setzen, wenn sie nochmal auf Tour ginge, sei er selbst gewesen, sagte er. Sie war noch nicht lange trocken. Und wenn die Veranstalter nichts von ihrem Problem wussten, viele bieten ja etwas zu trinken an, Wein oder Sekt. Es reicht ein Schluck, um rückfällig zu werden.»
Annettes Bericht machte den Vormittag am Mikrophon endgültig zur Märchenstunde und kappte jede nur denkbare Verbindung zwischen einem demolierten Motorrad in der Werkhalle von Scheidweber & Co und dem Unfall bei der Kiesgrube.
Aber Annette klang so betroffen und schuldbewusst, dass Marlene sich verpflichtet fühlte, sie aufzurichten. «Es war doch nicht mal ein Schluck», sagte sie. «Frau Merz hat am Schaum genippt, ich hab’s genau gesehen. Ich glaube eher, dass dieser Fischer sie mit seinen Fragen in die Kneipe getrieben hat.»
«Meinst du?», fragte Annette.
Ehe Marlene antworten konnte, sagte Karola: «Das sehe ich genauso. Du musst wirklich nicht melden, dass sie sich die Hucke vollgesoffen hat. Wenn sie eine Flasche im Auto hatte, hat die Polizei die bestimmt gefunden. Sie gingen heute Morgen schon von einem selbstverschuldeten Unfall aus. Inzwischen wissen sie garantiert, wie viele Promille sie hatte. Wenn es sie interessiert, bringen sie auch ohne deinen Hinweis in Erfahrung, wo sie das Zeug geschluckt hat. Und das war’s dann. Wir müssen Heidrun
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