Der Frauenjäger
in welch ernsthaftem, eindringlichem Ton
Frau Heinze
den Hokuspokus zelebrierte. Karola prophezeite gutgläubigen Leuten das große Glück für die nächsten Monate oder eine Pechsträhne für die nächsten Tage, abhängig davon, ob Jupiter oder Saturn mit ihren Einflüssen dominierten.
Karola hatte nicht den Schimmer einer Ahnung von Jupiters Einflüssen. Und Saturn war für sie nur der Laden, in dem sie preiswert zu einem neuen Staubsauger gekommen war. So jedenfalls drückte Werner es einmal aus. Aber er hatte nur selten Zeit für den Spaß. Meist saß Marlene alleine am Radio.
Für sie waren auch die drei Vormittagssendungen Pflicht. Im Gegensatz zu Annette und Ulla musste sie nicht frühmorgens aus dem Haus und hatte alle Zeit der Welt. Manchmal reizte es sie, im Studio anzurufen, Werner grüßen zu lassen, obwohl er es nicht hören würde, und sich einen Musiktitel zu wünschen: «The Ballad of Lucy Jordan». Aber Karola fragte immer, warumes ausgerechnet dieser Song sein musste. Die meisten erzählten dann von netten Erinnerungen. Der erste Tanz oder ein besonders schöner Abend. Sie hätte nur vom Staubsaugerschlauch erzählen können. Und Karola hätte sie wahrscheinlich sofort an der Stimme erkannt, auch wenn sie einen falschen Namen genannt hätte.
Nummer neun
Wie die Luft war auch die Musik anders als gewohnt, viel lauter. Es klang, als beschalle der kleine Lautsprecher des Radioweckers einen großen, leeren Raum und nicht ein gediegen eingerichtetes Schlafzimmer mit Polsterbett, Gardinen vor dem Fenster und Teppichen auf dem Fußboden. Doch diesen Eindruck schrieb Marlene ihren Kopfschmerzen zu. Wenn man das Gefühl hatte, der Schädel würde gleich zerspringen, neigte man zu Geräuschempfindlichkeit.
Marianne Faithfull sang die Ballade von Lucy Jordan, die mit siebenunddreißig Jahren von der Morgensonne geweckt wird und begreift, dass sie nie in einem offenen Sportwagen durch Paris fahren und den warmen Wind in ihren Haaren spüren würde. Deshalb stürzt Lucy Jordan sich abends vom Dach. So hatte Marlene den Song vor Jahren mal übersetzt und interpretiert.
Sie war als Zweitjüngste im Kleeblatt Anfang Dezember zweiundvierzig geworden, so alt wie Andreas Jäger gewesen war, als er aufbrach, sich seine Träume zu erfüllen. Und sie war schon viermal in Paris gewesen, allerdings nicht in einem Sportwagen herumgefahren. Werner bevorzugte Limousinen, wenn er Mietwagen nahm, ansonsten Taxen oder die Metro, weil es damit am schnellsten ging.
Marianne Faithfull kam zum Ende der traurigen Geschichte.Die letzten Töne der markanten Melodie verklangen. Danach war es sekundenlang still. Kein Atemzug verriet Werners Bestreben, sich fit zu halten. Marlene hörte auch kein anderes der typischen Geräusche, die ihr Mann verursachte, ehe er ins Bad ging. Nur ein fernes Rauschen und Plätschern.
Werner unter der Dusche, was sonst?
Wahrscheinlich war ihr deshalb so kalt. Womöglich hatte er ihr, ehe er hinausging, die Decke weggezogen, damit sie wach wurde und aufstand. Er ärgerte sich oft, wenn ihm auffiel, dass sie wieder mal nicht in die Gänge kam. Dann konnte er sich denken, dass sie nachts hinausgeschlichen war und eine der Schlaftabletten genommen hatte, die er verteufelte, weil sie seiner Ansicht nach abhängig machten und einen irgendwann umbrachten. Die Mutter von Andreas sei doch das beste Beispiel dafür, sagte er häufig. Irgendwann wüsste sie dann auch nicht mehr, ob es Morgen, Mittag, Abend oder Nacht sei, und liefe im Morgenrock oder im Hausanzug an die Tür, um dem Postboten oder sonst wem zu öffnen.
Die Musik setzte wieder ein. Die Stimme folgte:
«The morning sun touched lightly on the eyes of Lucy Jordan/In a white suburban bedroom, in a white suburban town …»
Welcher Trottel hatte denn da die falsche Taste gedrückt? Egal! Allerhöchste Zeit, sich aus ihrem gediegenen Kleinstadtschlafzimmer hinunter in ihre gediegene Kleinstadtküche zu begeben und das Frühstück auf den Tisch zu bringen, ehe die Kinder das übernahmen.
Wenn nur das Hämmern, Bohren und Stechen in ihrem Kopf nicht gewesen wäre. Die fleißigen Handwerker mussten ihre Schädeldecke inzwischen perforiert haben. Ihr Magen rebellierte auch immer noch. Und dieses penetrante Piksen in der linken Schulter, an der rechten Hüfte, unter dem linken Oberschenkel … Endlich fühlte sie auch ihre Beine und die Arme, spürte jeden in der Kälte verkrampften Muskel.
Es kostete sie enorme Anstrengung und
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