Der Frauenjäger
Mädchen hatten sich Werners Motto zu eigen gemacht, dass man Geld nicht vom Ausgeben hat. Was sie im Laufe der Zeit zu Weihnachten, an Geburtstagen oder für gute Schulnoten eingesammelt hatten, hatten sie brav zur Sparkasse getragen. Es reichte nicht ganz für die Heizung, den Rest borgte Karola sich von Marlene. Bei Annette und Ulla war nichts zu holen.
Weil Karola und ihre Mädchen auch essen mussten, waren sie jeden Abend irgendwo zu Gast. Annette und Christoph streikten schon nach vierzehn Tagen. Bei Ulla und Matthias reichte es nur knapp für die eigene Familie. Und Werner wurde die erzwungene Gastfreundschaft bald zu viel. Er wollte nicht jeden Abend, den er daheim am Tisch saß, von Karola hören, sein langjähriger Freund sei ein selbstsüchtiger und verantwortungsloser Schweinehund.
Werner vermittelte Karola ein zinsgünstiges Darlehen, mit dem sie einige Monate hätte überbrücken können. Doch das war nicht in ihrem Sinne. «Und was mache ich, wenn der Mistkerl in absehbarer Zeit nicht zurückkommt?», fragte sie. «Dann stehe ich in einigen Monaten wieder genauso da wie jetzt, hab nur zusätzlich ein Darlehen an der Backe, das ich von irgendwas abstottern muss.»
Karola meldete ihren Mann bei der Polizei als vermisst. Aber wenn ein als abenteuerlustig bekannter Erwachsener Frau und Töchter sitzenließ und auf Reisen ging, durfte niemand erwarten, dass die Polizei sich darum bemühte, ihn wieder nach Hause zu holen. Ein erwachsener Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte hatte das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
Das machte man Karola klar. Sie hatte kaum etwas anderes erwartet, besann sich auf den Wagemut, die große Klappe unddas Selbstvertrauen ihrer Jugend und investierte das Darlehen in einen Gebrauchtwagen. Ausgerechnet Karola.
Sie hatte ein äußerst zwiespältiges Verhältnis zum Straßenverkehr. Zwar hatte sie vor der Hochzeit den Führerschein gemacht, aber gefahren war sie danach nie mehr, weil sie den uralten Jeep nicht ausstehen konnte. Und dann stürzte sich Karola ohne Fahrpraxis mit einem sieben Jahre alten Ford Escort ins Getümmel und stellte fest, dass außer ihr größtenteils Idioten unterwegs waren. Noch zwei Monate nach dem waghalsigen Kauf schickte sie nach Möglichkeit eine ihrer Töchter hinaus, den Verkehr zu regeln, wenn sie vom heimischen Hof musste. «Man hat da nicht Augen genug», pflegte sie zu sagen.
Aber ohne Auto ging es nicht mehr – aus beruflichen Gründen. Karola bewarb sich nämlich beim lokalen Rundfunksender. Ihr war zu Ohren gekommen, da werde ein flotter, junger Moderator gesucht, der aktuelle Hits ebenso kommentieren sollte wie das Zeitgeschehen oder bedeutsame Ereignisse in der Region.
Werner schüttelte den Kopf über so viel Unvernunft und Selbstüberschätzung. Karola ging auf die vierzig zu und hatte von aktuellen Hits so viel Ahnung wie eine Kuh von Astrophysik. Abgesehen davon war sie kein Mann. Alles, was sie vorweisen konnte, war ihre zugegebenermaßen jugendlich klingende, melodische und einschmeichelnde Stimme, die Karola aber auch wie ein hysterisch keifendes Weib einsetzen konnte, und die Weisheiten, die sie jahrelang aus der Regenbogenpresse gesaugt hatte.
Und damit überzeugte sie. Seitdem fuhr Karola sechsmal die Woche zweiundzwanzig Kilometer brandgefährliche Landstraße hin und zurück. Montags, mittwochs und donnerstags moderierte sie die dreistündige Sendung am Vormittag, informierte über das Geschehen in der Region, lud interessante Gäste ins Studio ein oder plauderte am Telefon mit ihnen. Gelegentlichstellte sie aktuelle Themen zur Debatte und bat ihre Hörerinnen und Hörer: «Sagen Sie uns Ihre Meinung. Rufen Sie an oder schreiben Sie eine E-Mail …» Auf die Weise konnte man auch einen Gruß über den Äther schicken, einen Musikwunsch äußern oder kundtun, was man meinte, der Welt unbedingt mitteilen zu müssen.
Dienstags und sonntags saß Karola von acht Uhr abends bis Mitternacht vor einem Mikrophon und leistete zwischen gängigen Musiktiteln Lebenshilfe. Und freitags spielte sie – ebenfalls von abends acht bis um Mitternacht – unter ihrem Mädchennamen Heinze Studiogast in der Sendung eines Kollegen. Dann erstellte sie auf Hörerwunsch Horoskope, die sie die Woche über aus Illustrierten sammelte und mit Hilfe eines Astrologiebuches aufpeppte. Bisher war keinem Menschen der Schwindel aufgefallen.
Werner amüsierte sich jedes Mal köstlich, wenn er früh genug daheim war, um zu hören,
Weitere Kostenlose Bücher