Der Frauenjäger
Willenskraft, die verklebten Lider nach oben zu bringen. Dann blinzelte sie in eine so vollkommene Schwärze, dass sie meinte, ihre Augen gar nicht geöffnet zu haben. Sie blinzelte erneut, riss die Augen weit auf und fasste sich ins Gesicht, weil sich nichts änderte. Dabei stieß sie mit einer Fingerkuppe in den linken Augapfel und glaubte, aus welchen Gründen auch immer über Nacht erblindet zu sein, weil der plötzliche Schmerz ihr zwar die Tränen in die Augen trieb, sie aber immer noch nichts sah, absolut nichts.
13. Januar 2010 – Mittwochmorgen
Der Mittwoch, an dem Marlenes äußerlich so wohlgeordnetes und behütetes Leben aus den Fugen geriet, ohne dass es ihr sofort aufgefallen wäre, begann wie ein gewöhnlicher Wochentag mit grau-gelben Tupfen an der linken Zimmerwand.
In der Nacht war es wieder einmal spät geworden. Obwohl Werner den Dienstag in Köln verbracht hatte, war er erst um halb eins heimgekommen. Sie hatte wie üblich auf ihn gewartet, mit einem Buch auf der Couch und der Frage, wie ihr wohl zumute wäre, wenn er eines Tages gar nicht mehr heimkäme.
Es schneite wieder. Seit Tagen waren die Straßen spiegelglatt, nicht nur in den Wohngebieten, wo sich keiner die Mühe machte, den Schnee von der Straße zu schaffen. Auch Hauptverkehrsstraßen wurden zum Risiko, weil in den Kommunen das Streusalz zur Neige ging und kein Nachschub zu beschaffen war.
Ein paarmal geriet sie in Versuchung, ihn anzurufen. Aber bei Besprechungen schaltete er sein Handy grundsätzlich ab. Und seiner Mailbox zu erzählen, die Kinder seien um zehn zuBett gegangen und sie habe es sich auf der Couch gemütlich gemacht, verbot sich von selbst. Es war auch überflüssig.
Werner meldete sich dreimal. Zuerst erklärte er, die Besprechung dauere leider viel länger als vorgesehen. Dann teilte er scherzhaft mit, er sei die Bande endlich losgeworden und müsse nur rasch noch einige Papiere für morgen zusammenstellen. Kurz vor Mitternacht sagte er dann, er mache sich jetzt auf den Heimweg und sei bald bei ihr.
«Fahr bloß vorsichtig», mahnte sie und horchte sekundenlang in sich hinein, ob sie es ernst meinte.
In letzter Zeit stellte sie sich häufig vor, dass ihm etwas zustieß. Eine grausame Gedankenspielerei, aber dicht an der Realität. Man musste doch nur das Radio einschalten. Bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen hörte man stündlich von Unfällen auf irgendwelchen Straßen oder Autobahnen.
Als sie endlich nebeneinander in den Betten lagen, fühlte sie sich hellwach. Werner schlief schon nach wenigen Minuten wie ein Stein. Sie lag neben ihm und schämte sich für das, was ihr durch den Kopf zog. Dass er irgendwann zum letzten Mal anrief, wenn er sich auf den Heimweg machte. Dass wenig später die Polizei käme, um ihr die traurige Nachricht zu überbringen.
Sie sah sich auf dem Friedhof an seinem offenen Grab stehen, mit den weinenden Kindern an den Seiten und den betroffenen Mienen der anderen im Hintergrund. Sie schüttelte unzählige Hände und lauschte der allgemeinen Fassungslosigkeit, weil ihr in Eisen gegossenes Glück zerbrochen war. Darüber schlief sie ein.
Nach nicht ganz vier Stunden Schlaf war die Nacht vorbei. Um Viertel vor sechs schaltete sich Werners Radiowecker ein. Sie blinzelte in die Lichtinsel der Leselampe an seinem Bett und versuchte zu bestimmen, wen und was sie hörte. Nickelback? Nein. Bon Jovi? Auch nicht. Robbie Williams, um dessen Comeback-Single
Bodies
der Lokalsender vor Wochen so einenWirbel gemacht hatte, war es auf gar keinen Fall. Aber es war ein Mann, und er sang englisch.
Die Zeile:
«Love me wherever you are»,
klärte sie auf. Das war
Wire to Wire
von Razorlight. Wenn man eine Freundin beim Lokalradio hatte, wusste man so etwas. Marlene drehte sich auf die andere Seite, um noch ein paar Minuten zu dösen.
Werner saß bereits auf der Bettkante, reckte und streckte sich, gähnte noch einmal herzhaft und lag im nächsten Moment bäuchlings auf dem Fußboden, um den neuen Tag mit zwanzig Liegestützen in Angriff zu nehmen.
Im Halbdusel lauschte Marlene seinen gleichmäßig tiefen Atemzügen und dem ihrer Meinung nach traurigen Song. «Lie be mich, wer immer du bist», so übersetzte sie die Zeile, und das klang nach Einsamkeit.
Schon vor Jahren hatte sie bemerkt, dass die Musik frühmorgens über ihren Gedankenkreislauf, ihr Befinden und einiges mehr entschied. Was sie hörte, wenn sie die Augen aufschlug, tauchte im Laufe des Tages immer wieder in ihrem
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