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Der Frauenjäger

Der Frauenjäger

Titel: Der Frauenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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siebzig Stundenkilometern durch die Stadt. Als die Ampel an der großen Kreuzung bei der Kirche auf Rot sprang, konnte er nicht mehr rechtzeitig bremsen, schlitterte in den Querverkehr, rammte einen Linienbus und brach sich beide Beine. Marlene hatte es am Montagvormittag von Annette gehört, die zudem berichtete, Thomas sei auch noch bekifft gewesen.

Nummer neun
    Das erste Entsetzen verwandelte sich rasend schnell in nackte Panik. Marlene taumelte von einem Schock in den nächsten. Keuchend vor Angst und Verwirrung, betastete sie ihre wieder geschlossenen Augen. Verletzungen stellte sie nicht fest. Aber es konnte im Kopf etwas passiert sein, was sie ihr Sehvermögengekostet hatte. Ein Blutgerinnsel, ein geplatztes Gefäß, irgendwas in der Art.
    Eine von Werners Angestellten hatte im letzten Sommer einen Schlaganfall erlitten, war seitdem auf einem Auge blind, konnte nicht mehr verständlich sprechen und wurde im Rollstuhl gefahren. Ihr Zustand drehe ihm das Herz um, hatte Werner neulich noch gesagt. Die Frau war erst achtundvierzig, nur sechs Jahre älter als sie.
    All ihre körperlichen Empfindungen schienen dafür zu sprechen, dass es ihr nun so ähnlich ergangen war. Über Kopfschmerzen, Taubheitsgefühle und Kribbeln in den Gliedmaßen sowie Schwindelattacken hatte Werners Angestellte auch geklagt. Und so schlimm war es nach fehlendem Schlaf noch nie gewesen.
    Als sie aufschrie, erschrak sie vor dem rauen, kratzigen Klang ihrer eigenen Stimme. Es klang wie das Blöken einer verängstigten Ziege. Antwort bekam sie nicht, hörte nur den Nachhall und die Musik.
«…   Till the world turned to orange and the room went spinning round   …»
    Gott, war ihr schwindlig. Aber das war doch wieder die erste Strophe. Hatte sie die nicht schon zweimal gehört? Wieso lief das Lied denn zum dritten Mal? Wieso meldete sich nicht endlich der Moderator zu Wort und entschuldigte das Versehen oder die technische Panne? Wieso kam kein Jingle, der nervtötende Werbung ankündigte? Oder die Nachrichten?
    Sie stemmte sich mit zittrigen Armen in eine sitzende Position, was den Schwindel verstärkte und die Übelkeit auflodern ließ wie eine Stichflamme, sodass sie sich auf der Stelle übergeben musste. Immerhin gelang es ihr, den Kopf so weit zur Seite zu drehen, dass sie sich nicht selbst besudelte.
    Nachdem das Schlimmste überstanden war, glitten ihre Halt suchenden Finger durch lockeren Dreck und über Unebenheiten. Es fühlte sich an, wie es roch: staubig, erdig und trocken.
    Sie saß in einer flachen Kuhle, inmitten von spitzen Steinchen und scharfkantigen Gesteinssplittern, die das widerliche Stechen an Schulter, Hüfte und drei Dutzend anderen Stellen verursacht hatten. Ihr Oberkörper steckte in einem Pullover mit Rollkragen und der neuen Steppjacke. Dazu trug sie eine Hose aus weichem, wollartigem Stoff. Die neuen Stiefeletten mit den Lederschlaufen am Schaft hatte sie auch an.
    Sie begriff das nicht. Wieso saß sie vollständig angezogen im Dreck zwischen Steinen statt in dem Polsterbett mit der festen, aber nicht unangenehm harten Matratze und den Leselampen zu beiden Seiten? Wenn sie nicht in ihrem Schlafzimmer war, wieso hörte sie trotzdem das Rauschen und Plätschern der Dusche, als Marianne Faithfull erneut für ein paar Sekunden schwieg? Und wieso fing dann wieder dasselbe Lied an?
    Minutenlang brüllte sie sich die ausgedörrte Kehle heiser, obwohl jedes Wort wie ein Hammerschlag durch ihren Schädel dröhnte: «Hilfe! Werner! Hallo! Ich bin hier! Hallo! Hilfe! Ich sehe nichts mehr!» Bis nur noch ein schwaches Krächzen kam.
    Und Marianne Faithfull sang weiter von Lucy Jordan, die abends aufs Dach stieg und morgens erwachte – noch einmal von vorne. Und noch einmal. Und noch einmal.

13.   Januar 2010 – Mittwochmorgen
    Razorlight wurde kommentarlos abgelöst von Silbermond, die um ein kleines bisschen Sicherheit baten:
«…   in einer Welt, in der nichts sicher scheint.»
Auch nicht besser als ein Lied voller Einsamkeit, aber ein wahres Wort, fand Marlene. Obwohl in ihrer Welt seit zwanzig Jahren alles hundertprozentig sicher schien. Mit Werner war das Leben wie ein Rundum-sorglos-Paket.
    Sie wünschte sich nur, sie könnte es noch genießen und hätte nicht so merkwürdige Phantasien. Sie liebte Werner, daran hatten die Jahre nichts geändert. Wie konnte sie sich da ausmalen, er käme bei einem Unfall ums Leben? Wie konnte sie mit den Szenen seiner Beerdigung vor dem geistigen Auge einschlafen? War das

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