Der Frauenjäger
einer, der nicht mehr alles unter Kontrolle hatte und nicht wusste, wie er die Abweichlerinnen wieder auf Linie bringen sollte.
Nummer neun
Es war ein großes Wagnis, aufrecht zu gehen. Marlene musste es riskieren, weil sie kriechend keine zwei Meter mehr hätte bewältigen können. Ihre geschundenen Knie wollten einfach nicht mehr, daran änderten auch die mühevoll gebastelten Schützer aus Kunstleder nichts.
In der linken Hand hielt sie die zusammengepackten Schäfte der noch gut zur Hälfte gefüllten Stiefeletten. Mit der Rechten zerrte sie den dicken Kabelstrang aus dem Boden. Er war nur nachlässig dicht an der Felswand in die obere, lockere Erdschicht gedrückt, stellenweise sogar einfach bloß zwischen Steine verlegt.
Zentimeter für Zentimeter schob sie die nackten Füße vorwärts, hütete sich, den Bodenkontakt zu verlieren. Hin und wieder tastete sie nach der Felswand zu ihrer Rechten und schickte Stoßgebete an einen Gott, an den sie nicht wirklich glaubte, dass die Kabel zur Stromquelle und nicht bloß zum nächsten Lautsprecher führten. Ihre Gebete wurden erhört.
Marianne Faithfull blieb weiter und weiter hinter ihr zurück, obwohl noch zweimal Kabel abzweigten und – geschickt in feine Rinnen und Schrunden der Wand gedrückt oder geklebt – nach oben führten. Als sie hinaufschaute und den richtigen Blickwinkel erwischte, sah sie beide Male die nadelstichartigen, kreisförmig angeordneten roten Punkte, die ihr weiter hinten schon zweimal aufgefallen waren. Die Linse einer Infrarotkamera, die hoch über ihrem Kopf an der Felswand befestigt war. Lautsprecher gab es hier keine mehr.
Irgendwann gelangte sie auf ein Stück Boden, der aus festgestampftem Lehm zu bestehen schien. Ihre nackten Füße waren zwar taub vor Kälte, aber völlig gefühllos waren sie noch nicht. Jedes Steinchen hatte unter den Fußsohlen gestochen. Nun stach nichts mehr, stattdessen hatte sie das Gefühl, dass es stetig bergauf ging. Der Kabelstrang ließ sich nicht mehr ziehen, er war jetzt mit Schellen unten am Fels befestigt.
Sie versuchte, nicht an die Kameras zu denken. Vollkommen ausblenden ließ sich die Vorstellung jedoch nicht, dass der Mistkerl irgendwo weiter vorne an einem Bildschirm saß, sie kommen sah und sich bereitmachte, sie zu empfangen. Aber welche Wahl hatte sie denn?
Sie tastete sich weiter an der Wand entlang, bis sie mit dem rechten Schienbein gegen ein tief angebrachtes Hindernis stieß. Holzstufen, nur vier an der Zahl. Sie führten hinauf zu einer Holztür mit einer Aussparung an der Unterkante, in welcher der Kabelstrang verschwand. Ihre suchenden Finger glitten an der Tür hoch und fanden eine alte Klinke – nur ein Stück gebogenes Eisen – die sich relativ leicht herunterdrücken ließ.
Natürlich ließ sich die Tür nur durch Niederdrücken der Klinke nicht öffnen. Was hatte sie denn erwartet? Dass sie einfach so hinaus in die Freiheit spazieren könnte, nachdem sie diesen entsetzlichen Gestank gerochen, eine Handtasche mit einer Christophorus-Plakette gefunden und ihren Stoffgürtel um etwas gewickelt hatte, das ausgesehen hatte wie ein Oberschenkelknochen? Er durfte sie nicht entkommen lassen, hatte selbstverständlich diese Tür verschlossen! Und wenn er sie öffnete …
Sie war zu erschöpft und durchgefroren, um noch so etwas wie Enttäuschung oder gar Furcht zu empfinden. Ohne sich erneut um sicheren Stand für ihren Wasservorrat zu kümmern, stellte sie die Stiefeletten ab, klopfte mit beiden Fäusten gegen das Holz und rief: «Hey, pennst du? Ich bin hier! Direkt hinter der Tür! Mach auf, mir ist kalt!»
Keine Reaktion. Natürlich nicht. Das frustrierte sie doch ein wenig. «Feige Sau», murmelte sie und warf sich mit der rechten Schulter gegen das Holz, was man aber kaum als werfen bezeichnen konnte. Es steckte keine Kraft darin, war mehr ein Sich-nach-vorne-fallen-Lassen. Sie wollte ihn dabei weiter beschimpfen und verfluchen. Doch dazu kam sie nicht mehr.
Die Tür gab sofort nach, scheuerte mit einem kratzenden Geräusch über unebenen Steinboden, während Marlene vornüber in einen Gang kippte, in dem es augenblicklich hell wurde. Geblendet schloss sie die Augen. Im Bemühen, den Sturz abzufangen, um nicht mit dem Gesicht aufzuschlagen, prellte siesich den Ellbogen – wieder den rechten, den sie sich bereits im Graben angeschlagen hatte.
Diesmal tat es so weh, dass sie mindestens eine Minute lang mit geschlossenen Augen und nach Luft japsend halb auf den Stufen,
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