Der Frauenjäger
schätzungsweise zwei Meter über ihrem Bodenniveau und bewegte sich nicht. In dem schwachen Lichthof, den es verbreitete, meinte sie eine helle, glatte Oberfläche zu erkennen.
Was zum Teufel war das?
Stand der Mistkerl so nahe bei ihr, ohne sich zu rühren? Das war leicht herauszufinden. Sie tastete den Boden neben sich ab, bis sie einen faustgroßen Stein zu packen bekam. Den warf sie mit Schwung in Richtung des Grüns, traf aber nicht. Sie hörte ihn ein paar Meter weiter aufschlagen, und sonst hörte sienichts. Der nächste Stein war etwas kleiner und flog deshalb vielleicht etwas weiter. Diesmal klang es wie Stein auf Stein. Die Wand getroffen, dachte sie und tastete nach dem dritten.
Wie viele Steine sie letztlich warf, wusste sie nicht, sehr viele, alles, was um sie herumlag und größer war als die fiesen, kleinen Folterinstrumente. Zuerst richtete sie sich auf Knien auf, um höhere Stellen an der Wand zu treffen. Weil die Knie die Belastung aber kaum noch aushielten, stand sie schließlich aufrecht und bückte sich nur noch nach dem Steinhäufchen, das sie vor ihren nackten Füßen angesammelt hatte.
Und irgendwann gab es beim Aufprall ein anderes Geräusch, dem sofort weitere folgten. Das Glimmen geriet in Bewegung, schien sich erst zu drehen, dann fiel es und erlosch mit einem letzten Poltern. Marianne verstummte – allerdings nicht völlig, weiter hinten sang sie weiter von Lucy Jordan.
Lautsprecher, dachte Marlene, und nicht bloß einer.
Sie riskierte noch ein Zündholz, das wie der überwiegende Teil seiner Vorgänger zuerst nicht brennen wollte, schließlich aber doch aufflammte und mit seinem unruhigen Schein gerade weit genug reichte, um ihr Gewissheit zu geben. Etwa drei Meter von ihr entfernt lag am Boden vor der Felswand ein kleiner Lautsprecher von der Art, wie Leonard zwei Stück an seinem Computer angeschlossen hatte.
Angeschlossen! Es durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Kabel! Leonards Lautsprecher waren durch Kabel mit dem Computer verbunden. Und Kabel führten in der Regel irgendwohin. Nach dieser Schlussfolgerung schnappte sie hastig mit der freien Hand ihre Stiefeletten, packte beide an den Schäften zusammen und riskierte die wenigen Schritte aufrecht zur Felswand. Gerade als sie die Stelle erreichte, wo der Lautsprecher zu Boden gegangen war, erlosch die winzige Flamme. Aber es war nicht das allerletzte Zündholz gewesen.
Nachdem sie ihren Wasservorrat wieder standsicher geparkthatte, mühte sie sich mit dem nächsten Pappstreifen auf der fast völlig abgenutzten Reibefläche ab, bis das Flämmchen aufloderte. In dessen Schein untersuchte sie hektisch den von einem Felsvorsprung gestürzten kleinen Kasten.
Das Plastikgehäuse war beim Aufprall geborsten, an der Rückseite waren zwei Kabel befestigt, ein flaches und ein rundes. Als sie daran zog, schälte sich zu ihren Füßen ein armdicker Kabelstrang aus dem steinigen, staubigen Untergrund, von dem die beiden abzweigten. Wie viele Kabel in dem Strang zusammengefasst waren, ließ sich unmöglich feststellen. Sie waren im Abstand von fünfzig oder sechzig Zentimeter von Klebeband zusammengehalten.
Der Strang verlief, wie sie bald feststellte, in beide Richtungen an der Felswand entlang. Sie entschied sich für die linke, weg von dem Durchbruch, hinter dem das Wasser rauschte.
17. Januar 2010 – Sonntag
Der Sonntag begann wie der Samstag ohne Musik, dafür gab es wieder ein ausgedehntes Frühstück. Johanna und Leonard verzogen sich danach in ihre Zimmer, sie, um zu lernen, er, um weiter für die Klassenfahrt zu packen – oder überhaupt mal damit anzufangen. Anschließend setzte er sich an den Computer, bis Marlene zum Mittagessen rief. Bei der Zubereitung hatte Werner assistiert und Karolas gestrige Behauptungen bezüglich der Anrufe im Sender ebenso bezweifelt wie die Horrorszenen der Jäger’schen Ehe und die Bösartigkeit seines Freundes.
Nach dem Essen radelte Leonard zu einem Freund und Johanna wieder zu Barlows. Werner nutzte die ungestörte Zweisamkeit, um noch einmal Marlenes Traurigkeit anzusprechen. Das ließ ihm offenbar keine Ruhe. In der heutigen Zeit müssesich kein Mensch nutzlos oder überflüssig fühlen, meinte er. Wenn der Haushalt und die Kinder sie nicht mehr ausfüllten und sie sich die Nachmittage nicht in einem Fitnessstudio oder dem Tennisclub vertreiben wollte, es gäbe Arbeit en masse. Es wolle oder könne nur nicht immer jemand für diese Arbeit bezahlen. Vor allem im sozialen Bereich
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