Der Frauenjäger
hartnäckiges Drängen auf eine Lesung oder das Schlückchen Sekt danach – freigesprochen. Schon aus dem Grund rundete sich mit Fischers Auskünften für Annette ein Bild, das zuvor einige Risse und Unebenheiten aufgewiesen hatte.
Warum – zum Beispiel – hatte Heidrun Merz von Belästigungen am Telefon gesprochen, wenn doch offenbar nur der besorgte Lebensgefährte und Vater ihres Kindes sie gebeten hatte, nicht öffentlich aus
Monas Tagebuch
vorzulesen? Und warum hatte sie bei der Lesung diese langatmigen Stücke vorgetragen und nicht die Raststättenepisode? Die ausgewählten Texte hatte Annette als genauso dröge und langweilig empfunden wie Marlene.
«Kein Wunder», resümierte sie, «dass dieser Fischer mit seinen Fragen bei ihr einen empfindlichen Nerv getroffen hat, den sie anschließend mit Schnaps betäuben musste. Wenn es überhaupt keinen Liebhaber gab, hat sie die heißen Szenen wahrscheinlich frei Schnauze und so deftig wie gerade noch vertretbar zusammengestrickt.»
«Oder Mona hatte das eine oder andere Treffen mit einem Mitarbeiter der Agentur Sirius niedergeschrieben, und Heidrun Merz hat solche Stücke ausgebaut», wandte Marlene ein.
«Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ein Callboy sich zu einer Nummer in einer öffentlichen Toilette hergibt», sagte Annette. «Oder zu so einer Sache wie der auf der Autobahn, die ist ja noch drastischer.»
Durchs Telefon hörte Marlene das Glockenspiel an der Tür der Bücherstube. Aber es bestand wohl keine Veranlassung, das Gespräch sofort zu beenden. Annette kam noch einmal auf die Anrufe im Sender zurück und meinte: «Wenn jemand angerufen hat, ist Karola ihm wohl mit ihrer Art kräftig auf die Füße getreten. Wer weiß, wie lange der Typ sie schon im Visier hat? Er musste sich nur mal beim Sender auf die Lauer legen und ihr folgen, um herauszufinden, dass sie eine reizende Tochter hat.Von Stefanie weiß er offenbar nichts. Julia bleibt zur Sicherheit bei uns. Und Karola sollte sich schnellstmöglich eine neue Kellertür einsetzen lassen, eine Alarmanlage könnte auch nicht schaden.» Dann rief sie in den Hintergrund: «Sekunde, ich bin sofort für Sie da.»
«Moment noch», sagte Marlene. «Was hältst du davon, wenn ich stundenweise bei dir aushelfe? Erst mal ohne Bezahlung.» Antwort bekam sie keine mehr. Annette hatte aufgelegt.
Nummer neun
Der Raum, in den Marlene blickte, war ein Gang. Etwa zwei Meter breit und ebenso hoch. Ein großer Mensch hätte wohl reflexartig den Kopf eingezogen. Die Länge war schwer zu schätzen, weil im hinteren Teil kein Licht brannte. Deshalb war auch nicht zu erkennen, ob dort Gefahr lauerte.
Auf den ersten drei, vier Metern hinter der Holztür baumelte eine nackte, trübe Glühbirne am Kabel von der niedrigen Decke. Ihr Licht war längst nicht so grell, wie Marlene es im ersten Moment empfunden hatte. Aktiviert worden durch einen Bewegungsmelder – wie sie feststellte, als sie sich in Bewegung setzte und weiter hinten noch eine Glühbirne aufflammte. Doch bis dahin vergingen etliche Minuten, in denen sie nur einen Blick auf ihre Armbanduhr warf.
Viertel nach elf. Vormittag oder später Abend? Dafür gab es immer noch keinen Anhaltspunkt. Sie war nicht einmal sicher, ob sie vor acht Stunden das erste Zündholz angerissen hatte oder vor zwanzig. Durchaus möglich, dass sie so lange herumgekrochen war. Ihr Zeitgefühl war in der Schwärze verloren gegangen.
Die Geldbörse, die sie aus der beutelartigen Handtaschegenommen hatte, in der sie einen Personalausweis vermutete, kontrollierte sie nicht. Daran dachte sie in den Minuten gar nicht, ließ nur auf sich wirken, was sie sah, und versuchte zu verstehen, warum sie es bis hierhin geschafft hatte, ohne aufgehalten zu werden. Weil es jetzt nicht mehr weiterging?
Die beiden Längswände des Ganges bestanden aus massivem Fels. Rechter Hand stand eine endlose Reihe von verrotteten Holz- und rostigen Eisenregalen, hinter denen dicht am Boden der dicke Kabelstrang verlief. Im vorderen Bereich waren alle Regale leer. Weiter hinten schienen sie vollgestopft zu sein. Dort musste es auch eine weitere Tür geben. Doch die war bei den diffusen Lichtverhältnissen nicht auszumachen.
Der Boden bestand aus kleinen, buckligen Quadern, sah aus wie Kopfsteinpflaster. Es lag nichts herum, woran sie sich hätte verletzen können. Mit beiden Stiefeletten in einer Hand setzte sie sich langsam in Bewegung. Nach wenigen Metern ging die zweite Glühbirne an und ließ erkennen,
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