Der Frauenjäger
dich gleich zurück.»
Sie behielt das Telefon in der Hand, während sie Marlene informierte. Andreas hatte schon wieder einen Unfall gehabt. Und diesmal war nicht nur seine Suzuki kaputt. Sein linkes Bein hatte auch etwas abbekommen. Aber das sei nicht dramatisch, hatte er behauptet, nur eine Fleischwunde und ein paar Quetschungen. Dafür müsse er nicht im Krankenhaus bleiben. Wenn er irgendwo Unterschlupf fände für ein paar Tage …
«Ich kann ihn nicht aufnehmen», sagte Ulla. «Wie stellt er sich das vor? Natürlich ist bei mir momentan ein Bett frei. Aber das kann ich meiner Mutter nicht antun und Matthias auch nicht. Wenn er sich einen Arm gebrochen hätte, dann ja. Aber nicht mit einem verletzten Bein. Thomas hat ein Bein verloren.Das kann ich wirklich nicht machen.» Von ihrer Miene war abzulesen, welche andere Möglichkeit ihr vorschwebte.
Werner hatte vor Jahren das Dachgeschoss zuerst zu einem Gästezimmer aus- und später zu einem Junggesellenappartement umgebaut. Gäste über Nacht hatten sie nie gehabt. Er hegte die stille Hoffnung, dass Leonard zu Hause wohnen blieb, wenn er ein Studium aufnahm. Mit dem kleinen Duschbad und der Junggesellenküche wäre er unterm Dach vollkommen unabhängig, meinte Werner. Ob Leonard ihm den Gefallen tat, stand noch in den Sternen. Vielleicht nutzte Johanna die Möglichkeit, kostenfrei zu wohnen, wenn sie einen Studienplatz an der Kölner Uni bekam.
Weil Marlene nicht sofort reagierte, fragte Ulla: «Was ist mit dir? Meinst du, Werner hätte etwas dagegen, wenn du Andreas … Nur für ein paar Tage.»
«Werner ist in Straßburg», sagte Marlene. «Leonard ist auf Klassenfahrt in Tirol, und Johanna schläft bei Barlows. Bis Freitag bin ich ganz allein.»
«Das ist doch super», meinte Ulla. «Dann kriegt nicht mal jemand mit, dass er hier ist. Machst du’s? Bitte, Marlene, du hast doch genug Platz und auch noch sturmfreie Bude.»
Nummer neun
Etwa zwanzig Minuten lang schaute Marlene sich an, wie Barbara König aufbegehrte und still wurde, einen Kaugummi kaute, eine Zigarette rauchte, erneut tobte und schimpfte und das Gas aus ihrem Feuerzeug verbrauchte, um sich zu orientieren.
Auch Barbara König hörte wohl den Wasserfall. Vielleicht sah sie sogar den Durchlass und den Graben, der sie von beidem trennte. Sie hatte die Feuerzeugflamme so groß wie nurmöglich gestellt. Das brachte mehr als ein mickriges Zündholz, es zauberte sogar etwas Farbe auf die Monitore, weil die Infrarotkameras auf die veränderten Lichtverhältnisse mit schärferen Bildern reagierten.
Ob Barbara zum Wasser wollte oder einfach nur auf die andere Seite des Grabens, weil sie wusste oder gesehen hatte, dass es dort hinausging, blieb ihr Geheimnis. Ehe sie den Graben erreichte, war das Gas verbraucht. Sie schrie und fluchte noch minutenlang, dann stürzte sie und wimmerte, bis Marlene es nicht länger ertrug.
Sie drückte wieder auf den Knopf, nahm die DVD aus dem Laufwerk, steckte sie zurück in die Hülle und legte die wieder zu den anderen drei. Ihr war nicht danach, sich anzuschauen, was Nummer fünf, sechs und sieben enthielten. Sie fragte sich nur, wieso Barbara König ihre Handtasche hatte behalten dürfen und sie nicht.
Dann wickelte sie erneut das letzte Bonbon aus, steckte es in den Mund und begann auf der nächststehenden Tastatur zu tippen. Mit Computern konnte man schließlich Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. Karola eine Mail schreiben zum Beispiel. Deren private E-Mail -Adresse war die einzige, die sie auswendig kannte, weil Karola sie beim Italiener für Heidrun Merz auf einen Bierfilz notiert hatte.
Aus Thrillern wusste sie, dass man den Standort von Computern ausfindig machen konnte, wenn Mails verschickt wurden. Leider erreichte sie mit ihrer Tipperei nichts. Sie probierte es mit allen Tastaturen, die auf den Tischen standen. Aber egal, welche Taste sie drückte und welche Maus sie hin und her schob. Die Monitore waren erloschen, als sie die DVD herausgenommen hatte. Und sie blieben dunkel. Offenbar hatte sie mit ihrer Aktion die Verbindung zur Höhle unterbrochen. Ob es überhaupt eine Verbindung nach draußen gab, konnte sie nicht feststellen.
Nach einer Weile gab sie auf und fragte sich, wo der Mistkerl sich derzeit aufhielt und was ihn bewogen haben mochte, seinen Beobachtungsposten zu verlassen. Noch wichtiger schien die Frage, wann er gegangen war. Hatte er vielleicht gar nicht gesehen, wie sie den Lautsprecher herunterwarf und den Kabelstrang
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