Der Frauenjäger
entdeckte?
Diese Vorstellung gab ihr neuen Auftrieb. Sie trank das restliche Wasser aus der Stiefelette, erhob sich, nahm die vier nummerierten DV D-Hüllen vom Tisch und steuerte mit Trippelschritten die Eisentür mit dem Knauf an. Die Vorhangbahn behinderte sie beim Gehen, aber um nichts in der Welt hätte sie den wärmenden Stoff abgelegt. Die Stiefeletten, deren Futter mit eiskaltem Wasser vollgesogen war, die klamme, durchgescheuerte Hose und die beiden Kunstlederstücke, die einmal eine beutelartige Handtasche gewesen waren, blieben neben dem alten Bürostuhl zurück. Wozu hätte sie die Sachen mitnehmen sollen?
So hatte sie wenigstens eine Hand frei, fasste an den Türknauf. Wundersamerweise ließ der sich drehen wie in einem amerikanischen Film. Es quietschte und knarrte zwar erbärmlich in den Angeln, doch die Tür war ganz leicht zu öffnen.
Dahinter lag ein Raum, der früher als Vorratskeller gedient haben musste. Eine Glühbirne gab es nicht. Sie sah auch keinen Lichtschalter. Durch ein kleines, verdrecktes und vergittertes Fenster mit rostigem Eisenrahmen fiel mehr Dämmer als Tageslicht ein. Das reichte für die Gewissheit: Mittagszeit. Für einen weiteren Blick auf die Armbanduhr war das Licht zu dürftig.
An der Eisentür waren ebenso wie an der Wand, in die sie eingelassen war, Haken und Regalbretter angebracht. Zudem war das Eisen auf dieser Seite mit schmutzig grauem Verputz beschmiert – getarnt traf es wohl besser. An den Haken hingen vertrocknete Kräuterbündel, die einen muffigen Geruch verströmten. Auf den Brettern standen Konservendosen und Gläsermit eingelegten Gurken, Bohnen und Rotkohl. Alles war so geschickt arrangiert, dass man von der Tür wissen musste, um den Knauf auf dieser Seite zu entdecken. Ihr Magen quittierte den Anblick der Lebensmittel mit einem vernehmlichen Knurren. Aber genießbar war hier nichts mehr. Die Kondensmilch stammte aus Zeiten, in denen Tetrapacks noch nicht die Regel gewesen waren.
In einer Ecke stand eine vor sich hin gammelnde Kiste aus erdigen Holzlatten, auf deren schräggestelltem Lattenboden eine schwärzliche, zusammengebackene Masse klebte, in der nur die erfahrene Hausfrau noch ein Häufchen steinalter, erst verfaulter, dann mumifizierter Kartoffeln erkennen konnte.
Neben der Kartoffelkiste befand sich die nächste Tür – ebenso unverschlossen wie die beiden anderen. Marlene war weit davon entfernt, sich darüber zu wundern oder gar zu freuen. Sie fragte sich nur flüchtig, ob Nachlässigkeit, Bösartigkeit oder Bequemlichkeit dahintersteckten. Wahrscheinlich erwartete er sie oben. Da hatte er es bestimmt wärmer und gemütlicher. Wenn sie überzeugt war, es geschafft zu haben, würde er sie erneut schnappen. Trotzdem ging sie weiter. Was hätte sie sonst tun sollen?
Die letzten Tage und Stunden
19. Januar 2010 – Dienstag
Nach dem Anruf von Andreas wurde der Autokauf fürs Erste verschoben. Ulla sagte Herrn Müller Bescheid, sie käme ein andermal wieder. Er solle den Agila für sie reservieren. Dann rief sie Andreas zurück. Da saßen sie schon im Van, und Marlene brauchte die Adresse des Krankenhauses fürs Navi.
Eine gute Stunde später erreichten sie das Marienhospital am Stadtrand von Euskirchen. Andreas hatte Ulla erklärt, wo er zu finden sei, sonst hätten sie wahrscheinlich lange nach ihm suchen müssen. Er saß im Eingangsbereich der Notfallambulanz, neben sich einen großen Rucksack und eine Segeltuchtasche. Seinem Gepäck sah man an, dass es viel herumgekommen und häufig wechselnden klimatischen Bedingungen ausgesetzt gewesen war.
Wäre Ulla nicht schnurstracks auf ihn zugegangen, Marlene hätte ihn nicht so schnell wiedererkannt. Er sah elend aus, ausgehungert, völlig abgemagert, fast wie ein Bruder von Matthias. Die Runzeln in seinem Gesicht waren womöglich noch tiefer. Wettergegerbt konnte man das nicht nennen. Sonnengebräunt war er auch nicht. Seine Haut war fahlgrau mit einem Stich ins Grüne.
«Tut mir leid, dass ich so viele Umstände mache», entschuldigte er sich bei Ulla, ehe er sich mit einem zerknirschten Lächeln Marlene zuwandte: «Hallo, Lenchen, gut siehst du aus.»
«Was man von dir nicht behaupten kann», stellte Ulla fest. «Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?»
«Gestern Abend», behauptete er.
«Und was, wenn ich fragen darf?», bohrte Ulla nach. «Zwei Würmchen, drei Käfer oder eine fette Spinne?»
Er grinste, versuchte es zumindest, aber es fiel kläglich aus. «Bei dem Schnee
Weitere Kostenlose Bücher