Der Frauenjäger
wieder hinunter zu den Gehäusen, das hatte sie auch oft genug bei ihrem Sohn gesehen. CD-RO M-Laufwerke hatten ein winziges Knöpfchen, wenn man draufdrückte, kam ein kleines Fach raus.
Sie drückte alle Knöpfe, einen nach dem anderen. Nur bei einem Computer war eine silberne Scheibe eingelegt – versehen mit der Ziffer neun. Die nahm sie heraus, tauschte sie gegen die Nummer acht und tippte den Knopf wieder an. Das Fach wurde eingezogen.
Sekunden später sang Kenny Rogers:
«You picked a fine time to leave me, Lucille/With four hungry children and a crop in the field/I’ve had some bad times/Lived through some sad times …»
Im nächsten Moment hörte sie eine Frau schreien, so laut und durchdringend, dass es in den Ohren schmerzte: «Was sollder Scheiß, du blöde Sau? Hol mich hier raus, du Arschloch! Hol mich sofort hier raus, sonst reiß ich dir die Eier ab und ramm sie dir in den Hals, du Dreckskerl.» Weitere Aufforderungen dieser Art, gepaart mit mehr oder weniger obszönen Schimpfworten, folgten.
Dass sämtliche Monitore nach dem Wechsel der vermeintlichen CD kurz geflackert hatten, war ihr entgangen. Dass es sich um eine DVD handelte, begriff sie, als sie hinschaute. Die Mondlandschaft war nicht mehr leer.
Die Frau stolperte umher, krümmte sich wie unter Schmerzen, schrie sich die Lunge aus dem Leib und presste ihre Handtasche gegen den Bauch, als habe sie Krämpfe. Zweimal fiel sie, rappelte sich wieder hoch, torkelte weiter. Und Kenny Rogers sang für sie, wie Marianne Faithfull für Nummer neun gesungen hatte.
Barbara König. Es war nicht allein die beutelförmige Handtasche, die Marlene zu dieser Erkenntnis verhalf. Es war mehr das Lied. Hungrige Kinder. Und die Erinnerung an den Dreck in der Küche, in der Herr König sich vergebens um die Schnürsenkel in einem Paar Kinderschuhe bemüht hatte.
19. Januar 2010 – Dienstag
Beim Frühstück kurz nach sieben erklärte Johanna, dass sie auch heute von der Schule aus mit Kirsten und Julia zu Barlows fahre. «Ist es okay, wenn ich wieder um halb zehn hier bin?»
«Es wäre mir lieber», sagte Marlene, «wenn du nach der Schule heimkommst, ein paar Sachen packst und dich bei Barlows einquartierst. Dann kann ich morgen früh ausschlafen und muss mir nicht deine gekränkte Miene ansehen.»
Johanna jubelte, fiel ihr um den Hals, wusste sich vor Freudeund Dankbarkeit gar nicht zu lassen. «Du bist ein Schatz, Mama, ehrlich. Julia braucht uns jetzt wirklich dringend. Du hast keine Ahnung, in was für einem Dilemma sie steckt.»
«Doch», sagte Marlene. «Ihr Vater hat sich gemeldet und wollte vorbeikommen. Sie hat ihn abgewimmelt, weil ihr zu Ohren gekommen war, er hätte möglicherweise ein Verhältnis mit Mona Thalmann gehabt. Jetzt hat sie ein schlechtes Gewissen, weil er doch trotzdem ihr Papa ist. So habe ich es zumindest von Annette gehört. Und du bist wieder hier, ehe dein Papa am Freitag zurückkommt. Wenn du auch nur zwei Minuten später kommst als er, hast du garantiert die nächsten vier Wochen Hausarrest.»
Wie sie es Werner erklären sollte, wusste sie noch nicht. Am vergangenen Abend hatte er zwischen acht und zehn dreimal angerufen und jedes Mal nach Johanna gefragt. Angeblich nur, um zu prüfen, ob sein Verbot eingehalten wurde. Marlene hatte den Verdacht, dass er in einem Aufwasch kontrollierte, ob sie zu Hause war. Sie hoffte, dass ihr bis zum Abend eine plausible Erklärung zu Johannas Verbleib einfiel, über die er sich nicht ärgerte. Nur fand sie wieder nicht die Zeit, lange zu überlegen.
Sie war noch im Bad beschäftigt, als Ulla sich meldete. «Ich hab mir den Nachmittag freigenommen, um mir ein Auto zu kaufen», teilte Ulla ihr mit und bemühte sich, das Weitere scherzhaft klingen zu lassen, was ihr jedoch nicht so recht gelang. «Jetzt suche ich eine finanzstarke Sponsorin, die mich begleitet und bezahlt.»
«Da bist du bei mir genau richtig», erklärte Marlene. «Wann soll ich dich abholen?»
«Um zwei?» Es klang wie eine Frage.
«Passt hervorragend», sagte Marlene. «Da können wir vorher noch irgendwo eine Kleinigkeit essen. Ich war lange nicht mehr beim Chinesen.»
«Ich auch nicht», sagte Ulla. «Aber dann komm um halb zwei. Die machen nämlich von drei bis sechs zu. Wir wollen doch nicht schlingen, oder?»
«Nein», stimmte Marlene zu. «Wir wollen genießen. Dann bis halb zwei.»
Sie legte auf, ging wieder nach oben, erledigte die restliche Arbeit im großen Bad, wechselte ins Bad
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