Der Frauenjäger
hinauf ins Dachgeschoss schaffte er nur mit Mühe. Und diesmal protestierte er nicht, als Marlene ihm sein Gepäck hinterhertrug.
Kaum hatte er sich auf dem Bett ausgestreckt, bat er: «Du musst mir nicht Gesellschaft leisten, Lenchen. Geh mal wieder runter, mach dir dein Putensteak und tu, was immer du sonst abends tust. Ich bin froh, wenn ich mal ungestört schlafen kann. So komfortabel habe ich lange nicht mehr gelegen.»
«Wo hast du denn vergangene Nacht geschlafen?»
«Glaub mir, das willst du gar nicht wissen», erklärte er mit seinem zerknitterten Lächeln.
Statt Putensteak und Reis genehmigte Marlene sich eine Handvoll Weingummi und zwei Lakritzschnecken zum Abendessen und informierte Annette über ihren Gast, damit die nichtauf die Idee kam, Johanna heimzuschicken, ehe die Luft wieder rein war.
Werner dagegen, der kurz vor neun anrief, erfuhr erst einmal nichts von dem Mann im Dachgeschoss. Er hätte garantiert darauf bestanden, mit seinem Freund zu sprechen. Und Marlene bezweifelte, dass Andreas die Treppen heute noch einmal bewältigte, wenn sie ihn herunterrief. Ihr Telefon konnte man aus dem Wohnzimmer höchstens mit in die Küche nehmen, wenn man die lange Schnur hinter dem Zweisitzer herauszog.
Nummer neun
Vom Vorratskeller trat sie in einen schmalen, dunklen Gang, in dem es einen Wasseranschluss gab. Darunter war ein altes, gusseisernes Becken angebracht, neben dem eine Waschmaschine stand. Gegenüber der Maschine führte eine gemauerte Steintreppe nach oben. An deren Ende gab es wieder eine Tür. Und die konnte gar nicht abgeschlossen sein. Sie war mit einem altertümlichen Holzriegel gesichert, der sich einfach hochdrücken ließ.
Dann stand sie in einer gemütlichen Küche, durch zwei Fenster fiel diffuses Tageslicht ein. Draußen schneite es in dicken Flocken so dicht, dass sie die fünf oder sechs Meter vom Haus entfernt stehenden Tannen, Fichten oder sonst was – auf jeden Fall Nadelbäume – kaum in klaren Linien ausmachen konnte. Alles war so weiß, dass die Konturen verschwammen. Und nicht einmal der Sensenmann persönlich hätte es geschafft, sie jetzt zur Eile anzutreiben. So nah an der Freiheit, zog es sie angesichts des Schneegestöbers keineswegs mit Macht ins Freie.
Ihr war schwindlig und übel vor Hunger. In ihrem Kopf hielten sich Schrecken und Strapazen der letzten Stunden mitErschöpfung die Waage. Der angeschlagene rechte Ellbogen pochte unangenehm mit den blutigen Knien um die Wette. Zerlumpt und entkräftet, verwirrt und ungläubig schaute sie sich um.
Seitlich war die nächste Tür, eine ganz gewöhnliche, lindgrün gestrichene Zimmertür mit Oberlicht und gebogener Klinke, von der sie annahm, dass sie in den Hausflur führte.
Unter dem größeren Fenster stand eine gepolsterte Bank, die sich mit zwei dazu passenden Stühlen um einen rustikalen Tisch gruppierte. In der Tischmitte lag ein Zierdeckchen. Darauf stand eine gut gefüllte Obstschale. Sie legte die DV D-Hüllen ab und griff gierig zu. Leider waren Äpfel, Bananen, Orangen und Trauben aus Plastik. Kühlschrank mit Gefrierfach, Gasherd, Spülschrank und zwei Hängeschränke komplettierten die Einrichtung.
Neben dem zweiten, schmaleren Fenster beim Spülschrank ragte grau-brauner, rissiger Stein senkrecht in die Höhe. Das Haus war unmittelbar an den Fels gebaut und offenbar von Wald umgeben.
Draußen war mit einem rostigen Nagel ein altes Thermometer befestigt. Die Quecksilbersäule stand weit unter null. Die Küche dagegen war angenehm temperiert, nicht zu warm – was nur ihrer Erschöpfung Vorschub geleistet hätte. Auf dem Fußboden lag ein bunter Webteppich, der die Kälte der Steinplatten von den Fußsohlen abhielt.
Nach dem vergeblichen Griff in die Obstschale lockte der Kühlschrank mit gleichmäßigem Summen. Die Flaschenhalterung in der Tür enthielt einen geschlossenen Tetrapak Vollmilch und zwei Flaschen Cola. Auf den Rosten lagen ein Päckchen Salami, eine Tube Senf und ein Stück Butter im zerknitterten Einwickelpapier. Im Gegensatz dazu war das Gefrierfach proppenvoll mit Fertiggerichten für die Mikrowelle.
Ein Schubfach am Spülschrank enthielt diverse Besteckteileund Küchenutensilien. Sie nahm ein großes Fleischermesser mit scharfer Klinge und ein kleines mit Wellenschliff. In einem der Hängeschränke stand Geschirr, im anderen entdeckte sie eine Tüte mit noch zwei stark angetrockneten Brotscheiben.
Mit dem Fleischermesser neben dem Teller fühlte sie sich einigermaßen sicher,
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