Der Frauenjäger
statt hinein. Und seine Schultasche packte er grundsätzlich morgens, obwohl Wernerihm schon mehrfach erklärt hatte, es sei besser, das abends in Ruhe zu erledigen und morgens nur noch einmal zu kontrollieren, ob man nichts vergessen habe.
Johanna packte ihre Sachen abends, kontrollieren musste sie nicht, tat es aber trotzdem. Sie wollte nach dem Abitur Medizin studieren und später in die Forschung. Bei ihren Leistungen war fest damit zu rechnen, dass sie den gewünschten Studienplatz bekam und mit dem vom Vater geerbten Ehrgeiz auch alle anderen Ziele erreichte, die sie anstrebte.
Mit ihren siebzehn Jahren war Johanna überaus selbständig und zuverlässig, bügelte ihre T-Shirts und Jeans ohne Aufforderung, häufig gleich die Sachen des Bruders mit. Angeblich konnte sie sich am Bügelbrett besonders gut auf eine Klausur vorbereiten. Ihre Methode schien zu funktionieren. Sie stand in allen Fächern gut bis sehr gut und war eine Schönheit. Auch bei ihr dominierten Werners Gene.
Falls er bei ihrer Geburt so etwas wie Enttäuschung empfunden haben sollte, war das längst vergessen. Er liebte seine Tochter abgöttisch, den Sohn nicht weniger, bei Johanna jedoch zeigten sich schon erste Anflüge von väterlicher Eifersucht. Dabei legte sie noch absolut keinen Wert auf männliche Begleitung. Wie Marlene vor langen Jahren fühlte Johanna sich wohler in Gesellschaft ihrer Freundinnen Kirsten Barlow (Annettes Einzige) und Julia Jäger (Karolas Jüngste).
Über die beiden konnte man nichts Negatives sagen, ebenso wenig wie über Karolas Älteste – den Probeschuss Stefanie – oder Ullas kleine Meike. Aber die war auch erst sieben, besuchte die zweite Grundschulklasse, wurde von ihrer Großmutter liebevoll betreut und machte keine Probleme.
Mit ihrem Sohn dagegen hatte Ulla einen Schwarzen Peter aus dem Loseimer des Lebens gezogen. Wahrscheinlich bekifft mit schätzungsweise siebzig Stundenkilometern bei Rot in die Kreuzung geschleudert, mitten hinein in den Linienbus. Totalschadenan Ullas Auto, beide Beine gebrochen! Auch noch komplizierte Brüche. Wie mochte Ulla jetzt zumute sein?
Nummer neun
Es dauerte lange, sehr lange, ehe ihr Verstand Empfindungen und Wahrnehmungen auf einen Nenner brachte und sie begriff, warum niemand kam, um ihr zu helfen. Weil sie eben nicht daheim war und offenbar niemand in ihrer Nähe, zumindest keiner, der gewillt war, ihr beizustehen. Nach dieser Erkenntnis schluchzte sie noch eine Weile hilflos vor sich hin, ehe sie sich ein wenig fasste und zögernd daranmachte, ihre Umgebung zu erkunden.
Wände, Bretter, Mauern oder sonst etwas in der Art einer Begrenzung ertastete sie unmittelbar um die Kuhle herum nicht. An einer Seite fiel der Boden stark ab, so fühlte es sich jedenfalls an. Vielleicht war es nur eine weitere Mulde.
Als sie aufstehen wollte, um ein größeres Umfeld zu erforschen, zuckte ihr mit einem Mal die kraftlose, gepeinigte Stimme durch den Kopf:
«Ich werde sterben. Mein Bein ist gebrochen.»
Das hatte sie letzte Woche Mittwoch gehört, als ihr gewohntes, von Werner so perfekt geplantes Leben auf den Kopf gestellt worden war.
Instinktiv schlug sie eine Richtung ein, die bergauf zu führen schien, wenn auch nur minimal. In der Schwärze war es eher ein Gefühl als eine Gewissheit. Wie lange sie dann unverändert stark benommen und panisch, von fürchterlichen Kopfschmerzen und weiteren Schwindelanfällen geplagt, auf allen vieren durch die völlige Finsternis kroch und welche Strecke sie zurücklegte, konnte sie nicht einmal schätzen.
Marianne Faithfull begleitete sie, sang unermüdlich und ausschließlichvon Lucy Jordan. Das war keine akustische Halluzination, keins von den Liedern, die sie nach dem Aufwachen durch den Tag verfolgten. Die Musik war nicht in ihrem Kopf, sie hallte und schallte um sie herum. Wie eine perfide Foltermethode, die sie langsam, aber sicher zermürben oder ihr suggerieren sollte, dass es nur eine Methode gab, der Ausweglosigkeit zu entkommen.
Mit dem Gedanken daran hatte sie einmal gespielt. Es war gut drei Jahre her. Zu der Zeit stand Annette schon in ihrer Bücherstube, und Karola saß sechsmal die Woche im Studio. Ein paar Monate nach dem Verschwinden von Andreas Jäger hatte Marianne Faithfull sie einmal mit diesem Lied geweckt und durch den Vormittag begleitet. Möglich, dass sie mit ihren Übersetzungskünsten nicht jeden Satz auf den Punkt brachte. Aber die zweite Strophe verstand sie sehr gut, und die schien wie für sie
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