Der Frauenjäger
krankhaft oder ein Zeichen von Überfluss?
«Wenn’s dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis», hatte ihre verstorbene Großmutter früher oft gesagt.
Und wieso hatte sie es bisher nicht geschafft, mit Ulla über den erneuten Schicksalsschlag zu reden?
Annette war gleich am Montagmorgen von Karola über den gerammten Linienbus und den Schuldigen an diesem Unfall informiert worden. Von wem Karola es erfahren hatte, lag auf der Hand. Sie telefonierte gelegentlich während ihrer Vormittagssendungen mit dem Pressesprecher der Kreispolizei. Der wurde zwar normalerweise kurz nach acht zu den Polizeieinsätzen der letzten vierundzwanzig Stunden befragt. Das tat der Moderator, der von sechs bis neun im Studio saß. Doch wenn der Pressesprecher kurz nach acht keine Zeit zum Telefonieren hatte, übernahm Karola das eben eine Stunde später.
Am Montag war es so gewesen, das wusste Marlene mit Sicherheit, weil sie zugehört hatte. Über den Sender wurden natürlich keine Namen genannt. Aber es war denkbar, dass Karola vor oder nach dem offiziellen Teil ein paar persönliche Worte mit dem Pressesprecher gewechselt und mehr über diesen bestimmten Unfall erfahren hatte.
Wie auch immer: Nachdem Annette dann sie informiert hatte, versuchte Marlene sofort, Ulla zu erreichen. Sie wunderte sich, dass Ulla sich am vergangenen Abend nicht mehr bei ihr gemeldet hatte. Sie waren einander immer ein wenig näher gewesen als den beiden Älteren. Und nach so einem Unfall … Aber vielleicht war es zu spät geworden. Polizei, Krankenhaus, da dürfte für Ulla einiges zu regeln und zu kümmern gewesen sein.
Bei Scheidweber & Co wurde sie unter Ullas Durchwahl knapp von einer Assistentin abgefertigt. «Frau Kranich ist nicht zu sprechen. Kann ich etwas ausrichten?»
Da Privatgespräche an keinem Arbeitsplatz gern gesehen wurden, sagte Marlene: «Nein, vielen Dank», und legte auf.
Am frühen Abend probierte sie es bei Ulla daheim, bekam aber nur Ullas Mutter an die Strippe, die augenblicklich zu weinen begann, von einem Totalschaden am Auto und von komplizierten Brüchen stammelte. Wie schwer verletzt die Kumpels ihres Enkels waren, wusste sie nicht. «Mir sagt doch keiner was. Wie konnte Matthias nur den Schlüssel auf die Garderobe legen? Er wusste doch, wie gern der Junge Auto fährt.»
«Ja», sagte Marlene und dachte, es sei unfair, Matthias die Schuld zu geben.
Der Junge
war mit seinen siebzehn Jahren doch alt genug, um zu wissen, unter welchen Voraussetzungen man Auto fahren durfte und dass er diese Voraussetzungen nicht erfüllte. Das war ihm schließlich schon einmal von der Polizei erklärt worden.
Dienstags erging es ihr mit den Versuchen, zu Ulla durchzudringen, nicht anders. Wahrscheinlich probierte sie es nicht hartnäckig genug. Ihr Durchsetzungsvermögen war nicht sonderlich stark ausgeprägt. Aber: «Aller guten Dinge sind drei», hatte ihre verstorbene Großmutter früher oft gesagt. Einmal musste es ja klappen, auch wenn sie noch gar nicht wusste, was sie sagen sollte. Wie tröstete man denn eine Freundin in so einer Situation?
Finanzielle Hilfe anzubieten war vermutlich keine gute Idee. «Vergiss es, Marlene. Beim Geld hört die Freundschaft auf. Die Weisheit stammt nicht von mir, frag Werner», hatte Ulla beim letzten derartigen Angebot gesagt.
Irgendwie musste sie Ulla klarmachen, dass ihr ein paar tausend nicht wehtaten, dass Werner es nur nicht mochte, wenn er so dreist angepumpt wurde, wie Karola es gelegentlich tat. Undwenn Ulla dann sagte, dass es gar nicht um Geld ging? Oder dass man mit Geld nicht alle Probleme lösen könne?
Werner hätte diese Unterhaltung garantiert in allen Varianten durchgespielt und für jede mögliche Reaktion einen Plan gemacht. Sie musste es auf sich zukommen lassen und hoffen, dass sie die richtigen Worte fand. Und deshalb hätte sie den Tag lieber mit etwas Flottem, Aufmunterndem begonnen statt mit Einsamkeit, Unsicherheit und Weltschmerz. Peter Fox mit seinem
Haus am See
wäre nicht schlecht gewesen.
«Ich hab den Tag auf meiner Seite, ich hab Rückenwind …»
Das spielten sie leider nicht.
Auf Silbermond folgte die Werbung, dann begannen die Nachrichten. Im Bad lief bereits der Föhn. Sie hörte es, weil Werner immer die Tür öffnete, wenn er sich die Haare trocknete. Im Nebenzimmer polterte etwas. Es klang, als sei Leonard beim Packen seiner Schultasche ein Buch aus der Hand gefallen.
Es wurde Zeit, das Frühstück auf den Tisch zu bringen, die einzige Mahlzeit,
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