Der Frauenjäger
darauf antworten konnte, warf Annette einen Blick auf ihre Uhr und erklärte: «Wir müssen gehen. Die machen hier gleich dicht, und ich habe für Viertel nach achteinen Tisch bestellt.» Mit einem Lächeln in Karolas Richtung fügte sie hinzu: «Mit deiner nassen Bluse willst du sicher nicht mitkommen. Es ist verdammt kalt draußen.»
Und an Marlene gewandt: «Aber du hast bestimmt noch Zeit.»
Diesmal nicht. Nach nur vier Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht summte die Müdigkeit vernehmlich durch ihren Kopf. Sie hätte zwar gerne gewusst, wie viel Wahrheit in dem Büchlein steckte. Nur bezweifelte sie, ehrliche Auskünfte zu bekommen. Wenn es etwas zu verbergen gab, würde die Autorin es garantiert für sich behalten. Und sie hatte auf Werners Mailbox hinterlassen, sie sei spätestens um halb neun wieder zu Hause. Wenn er um die Zeit heimkam oder anrief, um zu sagen, wann er käme, das tat er bestimmt …
Ihre Müdigkeit und die Zweifel mochte sie nicht vorbringen. Und das Argument Werner ließ Annette nicht gelten, nachdem Karola ihre feuchte Bluse als Nichtigkeit abgetan hatte. Sie aßen schließlich nicht im Freien, und für die paar Meter über den Parkplatz hatte Karola ihren warmen Ozelot.
«Johanna fährt doch nach Hause», meinte Annette. «Kirsten fährt auch, sonst wird es für euch zu spät. Ihr habt schließlich morgen Schule und müsst früh raus.»
Der letzte Hinweis ging an Karolas Jüngste, aber die kümmerte sich nicht darum, folgte «Mutti» und Stefanie nach draußen.
Annette holte ihren Parka und den schicken Ledermantel der Autorin aus dem Büro und verschloss ihren Laden. Aufräumen wollte sie früh am nächsten Morgen. Zusammen mit ihr verließ Marlene die Bücherstube.
Der Wachmann begleitete Heidrun Merz zum Ausgang des Einkaufscenters und hielt sich auch auf dem Parkplatz dicht an ihrer Seite. Sie gingen zu einem silbergrauen Peugeot, der nicht den Eindruck erweckte, als sei die Autorin darauf angewiesen,Kapital aus einer Affäre ihrer vermissten Schwester zu schlagen. Ehe sie einstieg, drückte sie dem Wachmann etwas in die Finger.
Ein Stück entfernt ließ Karola ihre Töchter in den alten Ford Escort steigen. Johanna und Kirsten schoben ihre Räder auf die Straße zu. Die Frauen in Jeans und die Blonde verloren sich zwischen späten Kunden des Einkaufscenters.
Annette schloss ihren Mini auf, warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz und erkundigte sich: «Was ist nun, Marlene? Kommst du mit oder nicht? Wenn du mich mit Karola sitzenlässt, verzeihe ich dir das nie.»
«Frau Merz ist doch dabei», sagte Marlene.
«Eben», stimmte Annette zu. «Ich will nicht, dass Karola sie dumm und dämlich quasselt.»
Das war nachvollziehbar. Aber gerade deshalb verstand Marlene nicht, was Annette sich von ihrer Anwesenheit versprach. Nach all den Jahren musste Annette doch wissen, dass sie die Letzte war, die Karola bremsen konnte. Statt zu antworten, deutete sie zu dem silbergrauen Peugeot hinüber. Der Wachmann ging zurück zum Gebäude. «Ich glaube, Frau Merz hat ihm Geld gegeben.»
«Umsonst ist nicht mal der Tod», erklärte Annette. «Der kostet nämlich das Leben. Meinst du, einer vom Sicherheitsdienst hätte sich zum Vergnügen die Beine in den Bauch gestanden? Hundert Euro extra hat mich der Spaß gekostet. Aber Frau Merz wollte kein Risiko eingehen, kann ich ja auch verstehen.»
«Wird sie denn tatsächlich bedroht?», fragte Marlene ungläubig und ignorierte tapfer die Kälte, die sich durch ihre viel zu dünne Kleidung bohrte.
Zugang zu einem Tonstudio! Ein Verhältnis mit dem Mann der verschwundenen Schwester! Josch Thalmann war in Madrid gewesen, bevor ihm das Tonband zugestellt wurde! Und Parasiten wurden in der Regel von ihren Wirten ausgemerzt.Das hatte sich wie ein spitzer Dorn in ihr Fleisch gebohrt. Es war so persönlich, obwohl sie zwei Kinder und keine Putzfrau hatte.
Annette zuckte mit den Achseln. «Drücken wir es mal so aus: Es gibt anscheinend einen, dem es nicht passt, dass sie dieses Buch herausgebracht hat und auch noch öffentlich daraus vorliest. Und ich wüsste nicht, wer das sein sollte, wenn nicht der Kerl, mit dem Mona sich eingelassen hat. Frau Merz hat schon mehrere Anrufe bekommen, die ihr nicht geheuer waren. Deshalb wollte sie eigentlich keine Lesungen mehr machen. Gestern Nachmittag wurde sie wieder belästigt. ‹Jetzt erst recht›, sagte sie, als sie mich anrief. Aber du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen. Wir essen nur mit
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