Der Frauenjäger
bestimmt in den nächsten Tagen lesen», meinte Fischer. «Und so viele Seiten sind es ja nicht. Darf ich Sie nächste Woche anrufen? Sagen wir Dienstag? Wir setzen unsauf einen Kaffee zusammen, und Sie schildern mir Ihre Eindrücke. Haben Sie eine Karte?» Er meinte wohl eine Visitenkarte.
Marlene schüttelte den Kopf. Eigene Visitenkarten hatte sie nie besessen. Wozu auch? Sie hatte eine von Werner in der Brieftasche bei Führerschein und Personalausweis. Eine von den alten, die wollte sie Fischer auf gar keinen Fall geben. Adresse und Telefonnummer stammten noch aus der Zeit, in der Werner seinen Einmannbetrieb im Keller geführt hatte.
«Meine Nummer steht im Telefonbuch», sagte sie.
«Dann brauche ich nur noch Ihren Namen», erwiderte Fischer und grinste wieder.
Sein Grinsen störte sie. Und in dem Moment fiel ihr ein Witz ein, den Christoph mal erzählt hatte. «Der steht direkt davor.»
Damit zog sie ungeachtet seiner Hand am Holm die Tür zu. Ihm blieb gar nichts übrig, als loszulassen, wenn er sich nicht die Finger einklemmen lassen wollte.
Sie fuhr los, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Dicht hinter der Ausfahrt holte sie Annettes Mini ein. Im Rückspiegel sah sie, dass der rote Kleinwagen ihr folgte. Dreister Kerl, dachte sie. Wahrscheinlich spekulierte er darauf, dass sie nach Hause fuhr, dann hätte er die Adresse gehabt und den Namen
Weißkirchen
vom Postkasten ablesen können. Bis zur nächsten Ampel blieb er hinter ihr. Dann schaffte sie es noch knapp bei Gelb, und er musste halten.
Nummer neun
Es war ein winziger Lichtblick in totaler Schwärze. In der linken Außentasche ihrer Steppjacke identifizierten Marlenes Finger ein Zündholzbriefchen, von dem sie nicht wusste, wie es in ihren Besitz gelangt sein könnte.
Sie steckte Zuckertütchen und Kekse ein, wenn sie außerhalb ihrer vier Wände Cappuccino oder Latte macchiato trank. Zündhölzer hatte sie noch nie mitgenommen, erinnerte sich jedenfalls nicht. Sie rauchte nicht und benutzte zu Hause ein nachfüllbares Stabfeuerzeug, um Kerzen, Teelichter und den Kamin anzuzünden oder etwas zu flambieren.
Und das Briefchen war nicht alles. In der rechten Außentasche ertastete sie drei fingerkuppengroße Bröckchen, die von knisterndem Cellophan umwickelt waren. Bonbons. Woher sie die hatte, war ihr ebenfalls ein Rätsel. Sie tastete weiter. Aber noch mehr Schätze gab es nicht. Die Innentaschen der Jacke waren ebenso leer wie die Hosentaschen.
Sie ließ sich wieder auf die inzwischen höllisch schmerzenden Knie nieder und kroch weg von der stinkenden Lache, die ihr die Panik aus dem Leib getrieben hatte. Erneut musste sie spitze Steinchen beiseitewischen, eigentlich der Beweis, dass sie hier noch nicht gekrochen war. Aber vielleicht einen halben Meter weiter links oder dreißig Zentimeter rechts. Wie sollte sie das feststellen?
Doch dass sie bezüglich der Richtung nicht sicher sein konnte, berührte sie nur am Rande. Jetzt wollte sie zuerst ein Bonbon gegen den ärgsten Durst lutschen. Es wäre natürlich kein Ersatz für Wasser, aber es würde die Speichelproduktion anregen und das Schlucken erleichtern. Dann wollte sie ein Zündholz anreißen. Und wenn sie keine Flamme sah …
Was sie dann tun wollte, wusste sie noch nicht. Aber dass sie von jetzt auf gleich und ohne weitere Ausfallerscheinungen erblindet sein sollte, glaubte sie nicht mehr so recht. Der Untergrund, auf dem sie sich bewegte, sprach dagegen.
Trotzdem! Immer schön eins nach dem anderen. Pläne sollte man erst schmieden, wenn man alle Faktoren kannte, mit denen man plante. Sonst kamen nur Luftschlösser heraus, oder man schlitterte geradewegs von einer Pleite in die nächste.
«Ich heiße nicht Kranich, Mama», hörte sie im Geist ihren Sohn sagen. «Ich bilde mir nicht ein, dass ich fliegen kann.»
Sie bildete sich auch nichts ein. Bloß nicht übermütig werden wegen ein paar Bonbons, einigen Zündhölzern und einem absurden Verdacht gegen Werner. Der bei näherer Betrachtung gar nicht so absurd schien und ihr das Gefühl vermittelte, es sei alles nur halb so wild.
Als sie nichts mehr von der ekligen Lache roch, setzte sie sich und streckte die malträtierten Beine so weit aus, wie es erträglich war. Dann rieb sie den Staub so gut es ging von den Händen, zog ein Bonbon aus der Jackentasche und wickelte dicht am Mund behutsam das unerwartete Stückchen Glück aus dem Cellophan. Sie flehte alle Heiligen im Himmel an, es nicht hinunter in den Dreck fallen zu
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