Der Frauenjäger
heutzutage so eine enorme Kapazität hatten. Eigentlich hätte Lucy Jordan längst Schreikrämpfe bei ihr auslösen müssen. Aber zum einen war sie erfahren im Umgang mit Ohrwürmern, die man einen ganzen Tag nicht loswurde. Zum anderen hatte sie bisher nur in den Pausen bewusst hingehört, war ansonsten mehr auf den Boden unter den Händen, das Hämmern im Schädel, die schmerzenden Knie und den grausamen Durst fixiert gewesen.
Einigermaßen klar im Kopf war sie erst seit der Panikattacke mit nachfolgendem heftigem Durchfall. Seitdem mochten fünfzehn Minuten vergangen sein, höchstens zwanzig, meinte sie und versuchte, die Zeit zu rekonstruieren, als hinge ihr Leben von einer möglichst genauen Schätzung ab.
Hosen hochziehen, aus der Geruchszone kriechen, Bonbon auswickeln, Zündholz anreißen, wie gelähmt dasitzen, über das Wer und Warum grübeln und die Knie massieren … Bis hin zu dem Steinchen im Mund schienen ihr zwanzig Minuten eine realistische Schätzung.
Kassetten gab es mit sechzig oder neunzig Minuten Spieldauer. Es hatte früher auch Zwei-Stunden-Bänder gegeben, die aber nicht viel taugten, da hatte es schnell Bandsalat gegeben. Also ging sie von dreißig oder fünfundvierzig Minuten pro Seite aus. Schlimmstenfalls müsste sie demnach noch fünfundzwanzig Minuten auf eine längere Pause warten. Bei optimistischer Betrachtung und einem Sechzig-Minuten-Band wären es sogar nur zehn. Und nach einer gefühlten Ewigkeit kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger wirklich nicht an. Ihre Knie würden auch ein halbes Stündchen Erholung begrüßen.
Sie setzte sich so bequem wie möglich hin, lutschte weiter den Stein und zählte unter Zuhilfenahme der Finger die Balladen mit. «Du hast vier Minuten», hatte Karola im Studio gesagt. Die musste es wissen.
14. Januar 2010 – Donnerstagvormittag
Der aus Sicht des Pressesprechers zweifellos berechtigte Tadel traf Marlene an derselben empfindlichen Stelle wie Annettes Bemerkung über die drei Chinesen vom vergangenen Nachmittag. Nichts Besseres zu tun! Sicher doch. Bettzeug aufschütteln, Laken straff ziehen, Staub wischen, Böden saugen, zwei Bäder putzen, Werners Anzug in die Reinigung bringen und Ulla trösten, die vielleicht gar keinen Trost wollte.
Ulla wusste doch, wo sie gebraucht wurde. Bei Scheidweber &Co. Wenn Ulla dort nicht an ihrem Platz saß, ging es in der Fertigungsabteilung drunter und drüber, weil der Nachfolger von Andreas auch nach drei Jahren nicht mehr Ahnung von Landmaschinen hatte als bei seiner Einstellung. Ulla hatte bis heute nicht verstanden, wieso die Geschäftsleitung den Blödmann genommen hatte. Vermutlich, um ihm problemlos kündigen zu können, sollte Andreas mal wieder der Sinn nach Tretmühle stehen.
Bei ihr dagegen … Die Bäder würden nicht gleich verschimmeln, wenn sie einmal nicht geputzt wurden. Die Betten würden auch nicht zusammenbrechen, wenn Kissen und Decken ausnahmsweise so liegen blieben wie frühmorgens. Bis die Kinder kurz vor vier aus der Schule kamen, würde sie heute nicht einmal jemand vermissen.
Es ging ihr wirklich nicht darum, sich wichtig zu machen. Sie hatte nur Karola einen Gefallen tun wollen und sich dabei wichtig gefühlt. Sie war nahe daran, auf einer sofortigen Richtigstellung der Freundschaft zu bestehen. Stattdessen stellte sie etwas anderes richtig. «Der Mann gestern Abend, dieser Fischer, war nicht von der Düsseldorfer Polizei. Er war freiberuflicher Journalist.»
«Woher willst du das wissen?», fragte Karola.
«Er hat draußen auf mich gewartet.»
«Auf dich?», vergewisserte sich Karola ungläubig und ein wenig von oben herab. Es klang, als hätte sie sich die Bezeichnung «Schaf» in letzter Sekunde verkniffen.
«Das war vielleicht Zufall», räumte Marlene ein. «Er hatte neben mir geparkt, wollte etwas für den Spiegel schreiben und brauchte eine Publikumsreaktion. Die anderen Damen seien ihm zu beeindruckt von dem Vortrag gewesen, sagte er. Sein Auto hatte ein Siegburger Kennzeichen.»
«Warum sagst du das erst jetzt?», ereiferte sich Karola nun, sprang hoch, riss die Tür auf, spähte in den Flur und fluchte:«So ein Mist.» Dann rief sie: «Elke, Bobby, seht mal, ob ihr Kolber noch erwischt.»
Als sie sich zurück auf den rotgepolsterten Bürostuhl fallen ließ, schüttelte sie anklagend den Kopf. «Du bist mir vielleicht eine Nummer. Der glaubt mir doch nie mehr ein Wort.»
«Warum behauptest du denn auch so einen Blödsinn?», erwiderte Marlene
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