Der Frauenjäger
mich in Düsseldorf erkundigen, ob Frau Merz gestern Abend unter Beobachtung stand. Wenn ich mit dem zuständigen Kollegen spreche, ist das bestimmt sinnvoller.» Mit den letzten Worten trat er hinaus in den Flur.
«Blödmann», murmelte Karola, als die Tür wieder zu war. Dann lächelte sie Marlene an: «Aber das packen wir auch alleine, was?»
Nummer neun
In der nächsten Musikpause von drei, vier oder fünf Sekunden hörte Marlene das schwache Rauschen wieder und glaubte, an der klebrigen Trockenheit in Mund und Rachen zu ersticken. Noch ein Bonbon kam nicht in Frage, das würde ihren Durst ins Unermessliche steigern. Aber vielleicht ein Steinchen lutschen? Hier lagen doch so viele.
Sie tastete herum, bis ihr ein haselnussgroßes Exemplar unter die Finger geriet, das keine scharfen Kanten hatte, woran sie sich Zunge, Zahnfleisch und Gaumen hätte verletzen können. Zwischen Daumen und Zeigefinger rieb sie es sauber, scheuerte es anschließend noch in Leibhöhe über den Hosenstoff, bis sie sicher war, allen Dreck und Staub und mögliche Spuren von irgendwelchem Getier entfernt zu haben.
In völliger Dunkelheit sollte es weiße Krebse ohne Augen geben und andere Tierchen, denen es nichts ausmachte, niemals das Tageslicht zu sehen, hatte Andreas mal erzählt. Und dass solches Viehzeug wertvolle Nahrung sei, reines Protein. Bah und Igitt seien nur anerzogen, das könne man sich auch wieder abgewöhnen, und nicht nur im Notfall. Bestes Beispiel seien Gourmet-Restaurants, in denen gegrillte Heuschrecken, Würmer, Maden und anderes Ungeziefer serviert wurden.
Den Ekel abgewöhnen ging aber wahrscheinlich nicht von jetzt auf gleich, auch nicht im Notfall. Es würgte sie schon, als sie das Steinchen in den Mund nahm. Sie glaubte, alles Mögliche und Unmögliche zu schmecken, aber vermutlich bildete sie sich das nur ein. Und wenn nicht, war es trotzdem besser, einen Stein zu lutschen, als nach einem zweiten Bonbon vor Durst den Verstand zu verlieren und irgendetwas Dummes zu tun.
Das Steinchen regte nicht nur den Speichelfluss an. Auch ihre Gedanken wurden flüssiger. Eine Erinnerung an die vergessenen Tage tauchte auf. Eine Fahrt zu Scheidweber und Co. Dort stieg Ulla zu ihr in den Van. Das war am Dienstagnachmittag gewesen. Und damit hatte es sich auch schon wieder. Aber über Ulla kam sie zurück auf ihren alten Kassettenrekorder.
Der hatte am Bandende immer automatisch abgeschaltet. Ulla hatte sich mal fürchterlich erschreckt, als das während einer Aufnahme passiert war und die beiden Tasten hochsprangen, die man gleichzeitig drücken musste, wenn man sich als Gesangskünstlerin betätigen wollte.
Und bei Werners früherem Autoradio war beim automatischen Seitenwechsel eine längere Pause entstanden, in der man kein Bandrauschen, sondern mehrfach ein vernehmliches Klacken gehört hatte. «Rödeln» hatte Werner dazu gesagt.
Sie war überzeugt, dass die Musik von einer Kassette kam. Mit Kassetten war sie aufgewachsen, besaß noch mindestens vier Dutzend, bespielt mit der Musik ihrer Jugend und mit selbstgemachtem Blödsinn. Im Duett mit Ulla hatte sie nicht nur Abba-Songs interpretiert, auch die Erste Allgemeine Verunsicherung.
Tief in der Sahara auf einem Dromedara ritt ein deutscher Forscher durch den Dattelhain. Da sah der Mumienkeiler ein Mädchen namens Laila, magische Erregung fährt ihm ins Gebein.
Was man mit Kassetten alles machen konnte, wusste sie genauso gut, wie Heidrun Merz es gewusst haben musste. Man konnte sie besingen, besprechen, komplette Radiosendungen, Vogelgezwitscher oder die letzten Worte einer sterbenden Frau aufzeichnen und alles löschen, was andere nicht hören sollten.
Mit CDs und MP 3-Dateien kannte sie sich nicht gut aus. Werner war in puncto Unterhaltungselektronik kein Freak wie Christoph Barlow. In ihrem Wohnzimmer standen Fernseher, Stereoanlage, Festplattenrekorder und Satellitenempfänger, damit hatte es sich. Nichts davon war auf dem neusten Stand der Technik. Und sie hielt sich an Vertrautem fest.
Ein Kassenrekorder, der automatisch die Bandseite wechselte! Und eine Kassette wie die, die Christoph mal für Annette komplett mit einem einzigen Bruce-Springsteen-Song bespielt hatte! Und Rödeln war ihr bisher nicht aufgefallen. Sie hätte dieses Geräusch bestimmt nicht überhört, meinte sie, jedenfalls nicht mehr, seit sie einigermaßen aufmerksam bei der Sache war.
Wie lange sang Marianne wohl schon? Ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Zu dumm, dass Batterien
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