Der Fremde aus dem Meer
besonderen Auftrag wussten, und vor diesen waren es nur vier gewesen. Die Ausführung des Blackwell-Auftrages war eine heilige Pflicht, wie die Weitergabe einer Fackel oder des Familienschwertes an einen neuen Erben. Doch es war zugleich auch ein Witz mit langem Bart. Eher würde man die Hölle zufrieren sehen, als die Übertragung des Blackwell-Vermächtnisses an Ramsey O’Keefe erleben. Der Inhalt der beiden Rechtstitel war stets versiegelt gewesen, und seit 1955 war Bailey ihr Bewahrer. Bis heute. Seine Hände zitterten, als er die Briefe auf die polierte Tischplatte legte und sich räusperte.
»Ich werde mich zunächst der Angelegenheit von Miss Hamilton entledigen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Ohne abzuwarten, schob er einen Umschlag über den Tisch. Langsam streckte Penny den Arm danach aus. Ihre Hände zitterten. Sie nahm ihn nicht auf.
Ramsey richtete sich auf, sah stirnrunzelnd zwischen dem alten Schriftstück und ihr hin und her. »Penelope?« Ihre kühle Haltung verschwand von einem Augenblick zum andern.
Baileys Herz war voller Mitgefühl, zumal er wusste, dass sie kürzlich eine liebe Freundin verloren hatte und auf die Störung, die er für sie bedeuten musste, nicht vorbereitet war. »Lloyds verwahrt dieses Schreiben seit 1830, Miss Hamilton, obwohl mir die Umstände und Gründe dafür noch immer nicht klar sind.« Die Anweisungen der Erblasser waren präzise. Am 16. Juni dieses Jahres sollte ein einziger Brief geöffnet werden, seltsamerweise drei Tage nach dem Verschwinden der Turnerin, und sein Inhalt sollte in allen Einzelheiten befolgt werden. Bailey hatte genau das getan, trotz seiner Überraschung, ein hundertachtundfünfzig Jahre altes wachsversiegeltes Papier zu finden, das nur dieser bestimmten Frau übergeben werden sollte. »Ist Ihre Familie mit den Blackwells bekannt gewesen?«
Ramsey spürte, wie ihm die Knie weich wurden, und er packte die Lehne ihres Sessels, um sich festzuhalten. Er hielt die Luft an und wartete auf ihre Antwort.
»Nein.« Penny riss ihre Hand zurück. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Wie merkwürdig!« Bailey schlug ein breites, ledergebundenes Buch auf. Das bräunliche alte Papier raschelte, als er zu einer markierten Seite kam und mit seinem Finger die Seite hinunterfuhr. »Unsere Aufzeichnungen waren auch damals schon sehr präzise. Ja, T. Blackwell hat zusammen mit D. Blackwell unterzeichnet. Die Zustellangaben sind bis ins Einzelne genau.« Mein Gott, sogar die verblichene Adresse war richtig. Er sah sie über den Rand seiner Brille an. »Lebt Ihre Familie schon lange in diesem Haus?«
»Ich habe es vor zehn Jahren gekauft.« Sie wollte das alles nicht noch einmal durchmachen, weder die Fragen noch die Kopfschmerzen. Lloyds irrte sich. In Wirklichkeit war sie niemand. Penelope Hamilton war jemand, den sie erfunden hatte, um sie wie eine Maske zu tragen. Und sich selbst dahinter zu verbergen.
Bailey nickte, schob ihr das Zustellbuch hin und gab ihr einen Füllhalter. Die Welt verschwamm ihr vor den Augen, als sie sich weit genug aus dem Sessel erhob, um ihre Unterschrift zu leisten und den Brief in Empfang zu nehmen. Dann sank sie wieder in den Ledersessel zurück. Zitternd starrte sie auf das vergilbte Papier.
In zierlicher Schrift war ihr Name auf dem Umschlag zu lesen.
»Penny?«, rief Anthony leise und trat einen Schritt näher, wobei sein Blick von Penelope zu Ramsey und wieder zurück ging. Was, zum Teufel, ging hier vor? Penny war kurz vor einem Aufschrei, und Ramsey, um Himmels willen, der Mann war aschfahl.
»Es ist Tess’ Handschrift«, murmelte sie erstickt. Sie würde sie jederzeit wiedererkennen.
Bitte, nein. Nein!
Ihre Finger krampften sich zusammen, und sie wünschte sich verzweifelt, dass all das nur ein Scherz war, eine schreckliche Verwechslung. Die überwältigende Erinnerung daran, was sie Tess angetan hatte, war beinah unerträglich. »Das ist unmöglich«, flüsterte sie und starrte auf das gefaltete Pergament. »Sie kann das nicht geschickt haben.« Dann öffne es doch, sagte die Stimme der Vernunft in ihr, und sie brach das Wachssiegel von Lloyds auf und spähte hinein. Sie runzelte die Stirn und entnahm ihm ein grob geripptes Seidenband. An seinem Ende baumelte ein einfacher, altertümlicher Nachschlüssel.
Völlig verwirrte blickte sie auf. »Mister Bailey?«
»Noch heute Abend wird eine Kiste an Sie ausgeliefert«, las er aus seinen Anweisungen vor. »Ich nehme an, dass ihr Inhalt etwas mit dem Brief hier zu tun hat.«
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