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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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halbvoll mit rötlicher Limonade.
    Henry sagte, es sei alles okay, und stand auf. Er betastete seinen linken Wangenknochen. Ich sagte, es sei besser, er würde noch etwas liegenbleiben, doch er bestand darauf, sofort weiterzufahren.
    Der Bauer stand unschlüssig mit seiner Flasche am Wagen. Seine Wut war verraucht, und er brummte vor sich hin.
    Ich sagte ihm, es sei alles in Ordnung, und er könne weiterfahren.
    So? fragte er mißtrauisch.
    Er war vielleicht vierzig Jahre, durch seinen Stoppelbart und das herunterhängende Kinn wirkte er älter.
    Viel hätte nicht gefehlt, sagte er, viel nicht.
    Henry kauerte hinter dem Wagen und betrachtete die Unterseite der Karosserie.
    Gehn Sie schon, sagte ich, gehn Sie endlich.
    Und da er sich unentschlossen den Kopf kratzte, fügte ich hinzu: Sie können unbesorgt sein, ich bin Ärztin.
    Verrückt so was, sagte er, viel hätte nicht gefehlt.
    Er drehte sich um und ging zu seinem Traktor. Bevor er losfuhr, sah er zu uns. Er schüttelte den Kopf.
    Ich setzte mich ans Steuer. Henry sah mich mit zusammengekniffenen Augen an, sagte aber nichts und stieg ein. Ich fuhr ein Stück auf dem Kartoffelacker entlang, bis ich einen Übergang zur Straße fand. Die Räder wühlten sich in die weiche Erde.
    Auf der Chaussee fragte ich Henry, ob er nicht gesehen habe, daß der Traktor links abbiege. Er sagte, er hätte ihn zuvor noch überholen wollen. Und dann setzte er hinzu, er habe den Wagen eine Sekunde zu spät beschleunigt, eine Sekunde, in der er an mich gedacht habe, an mein Unbehagen, schnell zu fahren. Ich schwieg. Ich ärgerte mich, ihn überhaupt gefragt zu haben, und bemühte mich, gut zu fahren.
    Von der Mühle waren nur noch Mauerreste und verfaulte Balken zu sehen. Offenbar war sie von der Dorfbevölkerung ausgeschlachtet worden. Überall wucherte Unkraut. Wir mußten vorsichtig laufen, um nicht über in den Brennesseln verborgene Stangen und Eisen zu stolpern.
    Ich fotografierte den zerfallenen, ziegellosen Dachstuhl, in dem eine kleine Birke wuchs mit hellen, fast farblosen Blättern. Um sie zu erreichen, mußte ich an den Mauerresten emporklettern. Oben lag Gerümpel, ein altes Radio, verrostete Gartengeräte, ein Holzbock, durchgefaulte, blasige Pappe. Dazwischen Erde, Strohreste, auf einem Eisenträger eine Wasserpfütze, die ölig-violett schimmerte. Ich bewegte mich tastend auf die dünne, buschhohe Birke zu, deren verkrümmter Wipfel sich nach außen bog, nach dem freien Feld. Sehnsucht nach dem Wald. Der Spiegel der Kamera erfaßte den Baum, einen freigelegten Eisenträger, den Horizont. Dann kam ein radloser Kinderwagen ins Objektiv. Ich versuchte weiterzugehen. Ein Stein bröckelte, etwas fiel hinunter. Plötzlich bekam ich einen Schweißausbruch. Ich faßte nach der Mauer und tastete mich zurück. Ich wagte nicht aufzublicken und verwünschte meine Waghalsigkeit. Endlich erreichte ich den Mauervorsprung, wo ich hochgeklettert war. Henry wartete unten. Er bemerkte mich nicht, er spielte mit der Fußspitze an einer Distel. Er wirkte verloren hier draußen, mit den blanken, schwarzen Schuhen, der enganliegenden Weste und dem Filzhut. Er stand gelangweilt in dem wild wuchernden Unkraut, zwischen Mauerresten und verfaulenden Balken, vor den dunklen, vielleicht schon abgestorbenen Weiden am Flußrand, wie in einer Gesellschaft, in der er keinen kennt und nur mühsam sein Unbehagen verbergen kann.
    Ich rief ihn. Er sah zu mir hoch und fragte, ob ich fertig sei. Ich fragte ihn, ob er sich langweile, und er meinte, es sei erträglich. Er half mir herunterzuklettern und wollte wissen, was ich oben fotografiert habe. Ich sagte es ihm, under sah mich so verständnislos an, daß ich auflachte und ihn umarmte.
    Später liefen wir durch den Wald. Henry war damit beschäftigt, Büschen und Zweigen auszuweichen. Es war ihm anzumerken, daß er den Spaziergang als eine unnötige und sinnlose Strapaze empfand. Es bedeutete ihm offensichtlich nichts, zwischen Bäumen hindurchzulaufen, auf federnden Moosboden zu treten, die Stimmen und Geräusche eines Waldes zu hören. Die Landschaft gehörte nicht zu ihm, er konnte sich in ihr nicht bewegen. Der weiche, etwas morastige Boden, die von Spinnweben überzogenen Sträucher, die abgefallenen Äste, die unter unseren Schuhen leise knackten, alles spiegelte sich in seinem Gesicht, in seinen Bewegungen als Überdruß wider. Er war ein Stadtmensch. Es bedeutete ihm nichts, hier draußen zu sein. Anfangs redete ich fortwährend auf ihn ein,

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