Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Reihe war, beschimpfte einander auf das Übelste, und Inga fand, dass es wenig Hoffnung für die beiden gab. Da ihr Französisch nur mäßig war, musste sie sich sehr konzentrieren, um dem Streit folgen zu können, und zuerst dachte sie, dies sei jetzt genau das Richtige, um sie wieder müde zu machen. Doch nach zehn Minuten war ihr klar, dass ihre Konzentration nur an der Oberfläche stattfand. Ihr Herz schlug wie rasend. Wacher und angespannter konnte sie nicht sein.
Das ist doch nicht normal, dachte sie.
Sie schaltete den Fernseher wieder ab und nahm sich aus einem Zeitungskorb neben dem Kamin ein paar Illustrierte. Deutsche Ausgaben, und alle mindestens ein Jahr alt. Rebecca musste sie in glücklicheren Zeiten gekauft und gelesen haben; mit dem Rückzug in die völlige Isolation war offenbar auch jegliches Interesse für Klatsch und Tratsch aus der Heimat in ihr erloschen.
Inga nahm sich vor, in ihr Bett zurückzukehren und zu lesen. Manchmal half ihr das. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, jemals so aufgewühlt und nervös gewesen zu sein.
Als sie an der kleinen Gästetoilette, die sich hier unten im Haus befand, vorbeikam, fiel ihr auf, dass die Tür offen stand. Das tat sie sonst nie, und Inga meinte auch, sich zu erinnern,
dass sie geschlossen gewesen war, als sie am Abend zu Bett gegangen war. Obwohl sie es natürlich nicht hätte beschwören können.
Ihre Unruhe stieg. Sie wollte die Tür schließen, als ein deutlicher Luftstrom sie streifte. Zugluft mitten im Haus.
Sie spähte in das kleine Bad.
Sie konnte nicht gleich etwas erkennen, denn es gab nur das Licht der Sterne, aber es war sofort klar, dass das Fenster offen sein musste, denn der Wind wehte von draußen herein.
Wer lässt denn hier das Fenster offen?, fragte sie sich verwirrt, doch im nächsten Moment hatten sich ihre Augen schon an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte erkennen, dass das Fenster nicht einfach nur offen stand. Die Scheibe war eingeschlagen, und die Scherben bedeckten den Fußboden des Bades.
Jemand war durch dieses Fenster eingestiegen.
Jemand war im Haus.
Vermutlich hatte sie das Klirren der Fensterscheibe geweckt. Aber das anschließende Gefühl der Bedrohung war von ihrem Instinkt getragen worden – von dem untrüglichen Instinkt, den wilde Tiere haben und der ihnen auf unerklärliche Weise das Nahen einer Gefahr signalisiert, noch ehe die Anzeichen greifbar geworden sind.
Sie zog sich, so leise sie konnte, zurück, stand jetzt mitten im Flur, atmete kaum und überlegte, was sie nun am besten tat. Wenn sich jemand im Haus befand, wo hielt er sich auf? Wieso zeigte er sich nicht? Er musste mitbekommen haben, dass jemand wach geworden war. Sie hatte sich bemüht, Rebecca nicht zu wecken, aber sie hatte immerhin Licht gemacht im Wohnzimmer, und der Fernseher war gelaufen. Es konnte dem Einbrecher nicht entgangen sein.
Oder war er schon wieder weg? Hatte er Geld gesucht, es gefunden und war dann abgehauen?
Aber nichts schien durchwühlt und durchsucht. Und auch ihr Gefühl der Beunruhigung war um nichts weniger geworden. Die feinen Härchen an ihren Armen standen hoch, ihr Herz raste, sie war hellwach und angespannt.
Verschwinde, sagte eine innere Stimme, verschwinde so schnell du kannst. Hol Hilfe! Tu es, solange du noch die Möglichkeit hast.
Sie hätte später nie zu sagen gewusst, weshalb sie diese Stimme, die so eindringlich für Flucht plädierte, nicht in ihrer ganzen Bedeutung erkannte. Stattdessen machte sich der Gedanke, dass sie Hilfe brauchten, am Telefon fest. Die Polizei. Sie würde die Polizei alarmieren.
Das Telefon befand sich im Wohnzimmer, und dort war niemand. Sie hatte die Chance, unentdeckt das Gespräch führen zu können. Wieder lauschte sie nach oben. Der Eindringling musste oben sein; einen Keller hatte das Haus nicht, und in den Räumen im Erdgeschoss – Wohnzimmer, Küche und Gästebad – hielt sich niemand auf. Es herrschte völlige Stille. Sie wünschte, sie hätte irgendein Geräusch gehört. Nichts war bedrohlicher als dieses absolute Schweigen.
Sie schlüpfte aus den Plastikschuhen und huschte barfuß und vollkommen lautlos ins Wohnzimmer. Diesmal verzichtete sie darauf, das Licht einzuschalten. Sie kannte sich einigermaßen aus, und überdies waren ihre Augen nun ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt.
Das Telefon stand auf einem Bücherregal, und Inga wusste, dass im Fach darunter das Telefonbuch lag. Sie zog es heraus, trat näher ans Fenster, um das Licht der
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