Der fremde Sohn (German Edition)
sie zurückzuhalten. »Einmal haben sie ihm einen Computer abgenommen und ihn verprügelt. Er sollte ein Geschenk für mich sein.«
»Ein Computer für dich?«
»Na ja, Sie wissen schon, ein ausrangierter.« Dayna errötete.
Das hätte er sich denken können. Carrie wollte das Gerät bestimmt wegwerfen. »Und was noch? Wurde er auch grundlos verprügelt?«
»Ja, und das hat ihm innerlich genauso weh getan wie äußerlich. Er hat viel gelitten.«
Jetzt nicht mehr, dachte Dennis. »Trug Max jemals ein Messer bei sich?«, fragte er.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis das Mädchen antwortete, und Dennis wünschte, er könnte die Gedanken lesen, die Dayna durch den Kopf gingen.
»Nein«, flüsterte sie beinahe wie in Trance. »Nein, nie.«
Dayna wollte weglaufen, doch ihre Beine waren wie gelähmt. Es war, als habe jemand ihre Stiefel mit Blei gefüllt oder ihr die Fußsehnen durchtrennt. Ihre Knochen schmerzten ebenso sehr wie ihr Kopf, und nach den vielen Zigaretten hätte sie sowieso kaum genug Puste gehabt, um zu fliehen.
Dieser verdammte Kerl. Sie lehnte die Stirn an die Wand der Toilette. Es gab ein Fenster, das jedoch zu klein war, um sich hindurchzuzwängen. Warum musste sie bloß all diese blöden Fragen beantworten? Immer wieder die gleiche verdammte Leier. Konnten sie nicht einfach aufhören und sie in Ruhe lassen? Max war tot, Punkt. Dieser ganze Scheiß machte ihn auch nicht wieder lebendig.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Wieder diese Jess. Sie hatte gesagt, sie wolle auf dem Flur warten, aber als sie die Toilettenspülung hörte, musste sie hereingekommen sein.
»Ja, einen Moment noch.« Dayna riss ein Stück Klopapier ab und putzte sich geräuschvoll die Nase. Dann verließ sie die Kabine und wusch sich die Hände.
»Ich weiß, es ist schwer für dich, aber es musste sein. Und jetzt sind wir ja fertig.«
»Kann ich gehen?«
»Für heute ja. Ich fahre dich heim.«
Adrenalin flutete durch Daynas Körper und versetzte ihre Muskeln in Bereitschaft. Mit raschen Schritten ging sie zur Tür. »Nicht nötig, ich kann laufen. Es ist ja nicht weit.«
»Willst du …«
Doch Dayna hörte DI Brittons Worte schon nicht mehr. Sie lief eilig durch den Eingangsbereich, wo gerade wieder ein Übeltäter hereingebracht wurde. Der mürrische Junge, der sie aus drogenvernebelten Augen anstarrte, kam ihr vage bekannt vor. Sie rannte hinaus in den Frühlingsabend, als sei dies ihre zweite Chance, ihre Entlassung in die Freiheit.
Freiheit wovon?, fragte sie sich und lief noch schneller.
Dayna wollte zum Schuppen. Das Beste wäre wohl, dachte sie, wenn sie das ganze Zeug zusammenpackte und einer Wohltätigkeitsorganisation schenkte. Auf keinen Fall wollte sie, dass die Bullen in den Überresten von Max’ Leben herumstocherten. Das ging sie nichts an. Als sie Seitenstiche bekam, blieb sie stehen, hielt sich die Rippen und beugte sich dann vor, die Hände auf die Knie gestützt. Laufen dürfte doch nicht so weh tun, dachte sie. Als sie sich wieder aufrichtete, bemerkte sie den großen dunklen Wagen, der neben ihr hielt.
»Möchtest du mitfahren?«
Die Frau mit der dunklen Brille und den von Trauer überschatteten Zügen, die sie durch das geöffnete Fenster ansah, war Carrie Kent. Jetzt schob sie ihre Sonnenbrille hoch. Ihre roten, verquollenen Augen lagen tief in den Höhlen. Ihr Gesicht mit den hohlen Wangen war ungeschminkt, ihre Lippen dünn und farblos. Selbst ihre Stimme war nur noch ein schwaches Echo dessen, was Dayna aus dem Fernsehen kannte, aber ohne diese Stimme hätte Dayna die Frau wohl gar nicht erkannt.
»Wohin?«, flüsterte sie, als müsse sie fürchten, dass die Frau in Stücke zerfiel, wenn sie lauter sprach. Die Stiche wurden immer schlimmer. Irgendwohin zu fahren war immer noch besser als weiterzulaufen.
»Zu mir nach Hause«, antwortete Carrie. »Leah bringt uns hin.«
Dayna blickte zu der anderen Frau hinter dem Lenkrad. Irgendwie war es eine tröstliche Vorstellung, in Max’ Welt einzutauchen, mit seiner Mutter in diesem großen luxuriösen Wagen zu fahren. Der Schuppen konnte noch ein Weilchen warten.
»Okay, ich komme mit«, sagte sie, öffnete die Tür zum Rücksitz und stieg ein, wobei ihre Stiefelschnalle einen Kratzer am cremefarbenen Ledersitz hinterließ. Der Schmerz in ihrer Seite ließ ein wenig nach.
»Ich war bei dir zu Hause. Deine Mutter hat mir gesagt, du seist auf dem Kommissariat«, erklärte Carrie über die Schulter.
»Ja«, bestätigte Dayna, die schon
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