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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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kennengelernt?« Carrie setzte sich auf einen Hocker und lud Carrie mit einer Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen.
    »In der Schule. Im Englischunterricht. Es war unser Lieblingsfach, und wir waren im selben Kurs.«
    »Ich verstehe.«
    Carrie schien erstaunt. So, als hätte sie keine Ahnung von den Vorlieben ihres Sohnes gehabt. Allerdings wusste Daynas eigene Mutter wohl noch nicht einmal, auf welche Schule ihre Tochter ging, geschweige denn, welches ihre Lieblingsfächer waren. »In Englisch sind wir gut. Waren wir gut«, korrigierte sie sich. Sie hatte ihre Meinung nicht geändert: Sie würde niemals wieder einen Fuß in die Schule setzen.
    »Früher ist Max auf eine anständige Schule gegangen«, sagte seine Mutter. »Er hätte sie nie verlassen sollen.«
    »Wahrscheinlich wäre er trotzdem jetzt tot.« Kaum hatte Dayna das gesagt, tat es ihr schon wieder leid. »Ich meine, manche Dinge passieren so oder so.«
    »Max dachte immer, er wüsste alles besser. Schon als er noch ganz klein war.«
    Carrie lachte kurz auf, was Dayna etwas seltsam fand. Sie sah sich nach einem Aschenbecher um, kam jedoch zu dem Schluss, dass es besser war, nicht danach zu fragen, weil Carrie Kent wahrscheinlich niemals rauchte.
    »Er hat mir leckere Sachen zum Essen mitgebracht, Reste und so«, berichtete Dayna. Ihr war bereits der riesige Kühlschrank aufgefallen, der zwischen den Schränken stand, und sie malte sich aus, wie Max davorstand und überlegte, was er für ihr Festmahl in der Bude oder ein Picknick am Bach mitnehmen sollte. Räucherlachs, Gänseleberpastete, hartgekochte Enteneier, Früchte, die sie nicht kannte und die süß und ein wenig faulig schmeckten. Sie hatten lachend probiert, manches wieder ausgespuckt, sich den Bauch vollgeschlagen, sich geküsst und geraucht.
    »Er hätte alle Möglichkeiten gehabt, weißt du. Nach Oxford oder Cambridge gehen oder in den USA studieren können.«
    »Wollte er das denn?« Dayna beäugte den Glasbecher, den Leah ihr reichte. Darin war kochendes Wasser, in dem grüne Blätter schwammen.
    »Es ist doch keine Frage des Wollens, oder?«
    Dayna fand, dass das keine Antwort war, aber da sie selbst in ihrem Leben schon manches gegen ihren Willen getan hatte, verstand sie, was Carrie meinte. »Ich muss andauernd auf meine kleine Schwester aufpassen.« Sie nippte an ihrem Getränk. Es war heiß und schmeckte nach Pfefferminz. »Dazu habe ich auch nicht immer Lust.«
    Carrie blickte Dayna in die Augen. Das Gesicht der Frau war so blass wie alles hier, umrahmt von einem wirren Haarschopf, der aussah, als habe sie ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr gebürstet.
    »Wer war es, Dayna? Um Himmels willen, sag mir, wer meinen Sohn getötet hat.«
    Dayna schluckte und verbrannte sich die Kehle. Während sie Carrie anstarrte, kam sie sich vor wie einer ihrer Showgäste. Jetzt verstand sie vollkommen, warum die Leute dort ihr Innerstes nach außen kehrten. Selbst jetzt, da Carrie Kent meilenweit von ihrer Bestform entfernt war, konnte man sich ihrer Macht kaum entziehen. Dayna schlug die Augen nieder.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie hastig. »Das ist die reine Wahrheit. Es waren mehrere, eine Bande oder so, und sie hatten Kapuzen auf. Außerdem ging alles so schnell. Ich hab versucht, Max zu helfen. Vielleicht hätte ich noch mehr tun können, aber ich war –«
    »Hat es lange gedauert?«, fragte Carrie mit kalter Stimme.
    Dayna runzelte die Stirn. Wieder zogen die Augen der Frau sie in ihren Bann.
    »Dauerte es lange, bis Max tot war?«, setzte Carrie hinzu.
    Dayna sah wieder Max’ Gesicht vor sich, als es geschah, und dachte: Ja, und er wusste auch, dass er sterben würde.
    »Nein«, flüsterte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie empfand ein Schwindelgefühl hinter den Augen, und ein Zittern erfasste sie, das stärker wurde und sich vom Kopf über ihre Schultern, den Rücken, die Arme und Beine ausbreitete, bis ihr ganzer Körper schlotterte, als gehöre er ihr nicht mehr. Der Schmerz in ihren Eingeweiden wurde so heftig, dass sie dachte, sie müsse sich übergeben.
    Dayna sprang auf, rannte durch die Küche und prallte gegen die Glaswand, die Carries perfektes Heim von der Außenwelt trennte. Mit erhobenen Armen, das Gesicht gegen die kalte Barriere gepresst, stand sie da und ließ die Handflächen an der Glasscheibe hinabgleiten.
    Dann ging sie schluchzend in die Knie.
    Doch jemand fing sie auf. Auf einer Seite das kalte Glas, auf der anderen ein warmer Körper.
    Max’ Mutter.

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