Der fremde Sohn (German Edition)
Ein Teil von ihm.
Er war überall.
Ebenfalls schluchzend wiegte seine Mutter sie in den Armen, und sie wurden eins in ihrem Schmerz – Carrie Kent, die aus ihrem strahlend weißen Dasein heraustrat, und Dayna, überwältigt von ihrem trostlosen Leben, dem sie nicht entfliehen konnte.
Schließlich blickte Carrie auf und strich Dayna eine lose Haarsträhne hinter das Ohr. »Ich habe ihn geliebt, verstehst du. Wirklich geliebt. Das Schlimme ist nur, ich glaube, er wusste es nicht.« Ihre Augen waren rot gerändert. »Ich bin so froh, dass er jemanden gefunden hatte, den er lieben konnte.«
Auch wenn es nur ein Mädchen wie du war, ergänzte Dayna im Stillen.
Allein hätte sie es nicht fertiggebracht, doch zusammen mit ihr war es erträglicher. Carrie ging voran, obwohl sie am liebsten Dayna ins Zimmer gestoßen, die Tür hinter ihr zugeschlagen und das Mädchen allein mit den Gespenstern hätte kämpfen lassen. Gewiss, Dayna hatte ihrem Sohn nahegestanden, doch Carrie empfand es als hilfreich, dass das Mädchen ihr fremd war.
Carrie betrat das Zimmer, gefolgt von Dayna, die noch immer leise in ihr Taschentuch weinte.
Drinnen roch es ein wenig süßlich, nach einer Mischung aus schmutziger Wäsche, den Essensresten von mehreren Tellern und abgestandener Luft. Carrie schaltete das Licht ein und kniff die Augen zusammen – nicht, weil es plötzlich zu hell gewesen wäre, sondern weil jetzt alles sichtbar wurde, was nicht zu ihrem Leben gehörte und nie dazu gehört hatte.
»Ist das groß – und unordentlich«, sagte Dayna mit einem leisen Schnauben, das in besseren Zeiten als Lachen hätte durchgehen können.
»Ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr hier drin«, erklärte Carrie. Diesem Mädchen gegenüber, das sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde, fiel es ihr nicht schwer, das einzugestehen.
»Wieso nicht?«
»Geht deine Mutter in dein Zimmer?« Carrie tat einen zögernden Schritt und hätte am liebsten nach Daynas Hand gegriffen. Auf dem zerwühlten Bett lag eine Schlafanzughose. Die Hosenbeine, die in entgegengesetzte Richtungen wiesen, erinnerten Carrie an die Kreidemarkierung auf dem Schulhof, wo Max’ Leiche gelegen hatte.
»Ja, manchmal.«
Carrie spürte, wie sie auf der Stufenleiter elterlicher Fürsorge noch weiter abstieg. Sogar die Mutter dieses Mädchens war besser darin, als sie selbst jemals gewesen war.
»Verstehst du dich gut mit deiner Mutter?«
Dayna lachte. »Überhaupt nicht. Meist ist sie eine blöde Ziege.«
Carrie war enttäuscht, aber auch ein wenig erleichtert. Wie gern hätte sie diese Mutter beschworen, die Dinge wieder ins Reine zu bringen, sich mit ihrer Tochter auszusöhnen, Zeit mit ihr zu verbringen, und zwar sofort, bevor es vielleicht zu spät war. All diese Gedanken geisterten ihr durch den Kopf, während sie zu begreifen versuchte, was ihre Augen sahen. Das Zimmer ihres Sohnes. Plötzlich war sie so überwältigt, dass sie nach Daynas Arm griff.
»Das fällt mir so schwer«, bekannte sie. Das junge Mädchen legte eine Hand auf Carries. Das war ein kleiner Trost. »Es ist unwirklich.« Schweigend standen sie da.
Endlich sagte Dayna: »Er hatte viele Poster und Bücher.« Mit schiefgelegtem Kopf überflog sie die Titel. »Wir mögen … mochten die gleichen Sachen.« Sie zog eine zerlesene Ausgabe von Romeo und Julia aus dem Regal. »Das haben wir in Englisch durchgenommen.«
»Haben sie deswegen auf euch herumgehackt?« War Max durch die hervorragende Ausbildung in Denningham abgehoben, so dass er sich nicht mehr in die reale Welt einfügen konnte? Auch wenn niemand ernsthaft behaupten konnte, dass es sich bei dieser schrecklichen Einrichtung namens Milton Park um die »reale Welt« handelte.
»Ach was. Das hat doch keinen interessiert.«
»Was sonst? Woran lag es dann?«, fragte Carrie mit brüchiger Stimme. »Max war ein guter Junge. Er war nicht auf Streit aus.«
Den Blick auf den Boden gerichtet, schüttelte Dayna langsam den Kopf. »Er war einfach nicht wie die anderen. Genauso wenig wie ich.«
Aber du bist noch am Leben, dachte Carrie und musste sich zurückhalten, um es nicht laut auszusprechen. »Warum?« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Er passte einfach nicht zu ihnen«, antwortete Dayna. »Es ist fast, als hätten sie Angst vor einem. Sie betrachten einen als Feind, den sie bekämpfen müssen, auch wenn man ihnen gar nichts getan hat.«
Ihre Worte trafen Carrie wie ein Schlag. »Aber –«
»Das ist Bandengesetz. Er hatte eben
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