Der fremde Sohn (German Edition)
Sie lachte so heftig, dass ihr die Tränen kamen und sie in ihrer Tasche nach einem Taschentuch suchen musste. Als sie keins fand, zupfte Jess ein Kleenex aus einer Schachtel und reichte es ihr. »Ihr kapiert es einfach nicht, was?« Kopfschüttelnd tupfte sie sich das Gesicht trocken. »Ich meine, uns mochte keiner. Alle hassten uns.«
»Du sagst uns, Dayna. Glaubst du, sie haben dich schon gehasst, bevor du Max kanntest?«
»Mein Gott, ja«, erwiderte sie. »Es waren dieselben Leute, die ihn und mich hassten. Es war fast so, als hätte der arme Max meine ganzen Feinde übernommen, nur weil er mit mir befreundet war. Er war noch nicht lange an der Schule. Bei mir hatten sie jahrelang Zeit, um zu merken, dass ich … na ja, Sie wissen schon … dass ich anders bin und nicht zu ihnen passe. Eben ein Freak.« Das letzte Wort stieß sie voller Verachtung hervor.
»Warum?«, fragte Jess nach. »Wieso haben die Mitschüler auf euch herumgehackt?«
Dayna brauchte nicht lange zu überlegen. »Weil ich anders aussehe. Außerdem gehöre ich nicht zu einer Bande und bin weder Chav noch Emo oder sonst was. Die Leute stecken andere gern in Schubladen.«
»Und was bist du dann?«, fragte Jess.
Dayna zuckte die Achseln. »Ich bin einfach … ich.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde sie rot.
»Passte Max in irgendeine Gruppe? Gehörte er zu einer Bande?«, mischte sich Dennis ein.
»Nein, nein. Er kam doch von dieser komischen Privatschule, die ein Vermögen gekostet haben muss. Ich glaube nicht, dass er vielen Leuten davon erzählt hat, aber irgendwie sprach es sich doch herum und machte alles noch schlimmer.« Dayna schluckte. »Er war gut in der Schule und wollte wirklich lernen, aber das ist keine Schule, sondern ein Zoo.«
»Würdest du sagen, er war ein Einzelgänger?«, fragte Dennis weiter.
Sie nickte. »Wir wollten nur in Ruhe gelassen werden.«
»Woran hatte Max Freude, Dayna? Was tat er so zum Spaß?« Er musste sich ein umfassendes Bild von Max machen, und es hatte wohl keinen Zweck, wenn er Carrie mit Fragen löcherte. Ohnehin hätte sie ihm wahrscheinlich nicht viel erzählen können. Also musste er sich vorerst mit Dayna begnügen. Zahlreiche Polizisten in Zivil und in Uniform waren unterwegs, klopften an Türen, befragten Zeugen und suchten nach Beweisen, um die Ereignisse vom Freitag zu rekonstruieren. Das Beste, was er und Jess im Augenblick tun konnten, war, mit Daynas Hilfe Max’ Leben Stück für Stück aufzudecken. Irgendetwas stimmte daran nicht, das sagte ihm eine innere Stimme. Er wusste nur noch nicht, was es war.
»Er ging gern zu … Er hat gern Rätsel gelöst und so.«
Dennis hatte Daynas plötzlichen Schwenk bemerkt, bohrte jedoch nicht nach. Stattdessen fragte er: »Was für Rätsel? Sudoku?«
»Nein, eigentlich keine richtigen Rätsel. Mehr so Gewinnspiele. Er hat bei Preisausschreiben mitgemacht.«
Dennis war überrascht. »Hat er denn was gewonnen?« Wahrscheinlich war sich der Junge auch dabei wie ein Versager vorgekommen.
Dayna rutschte auf ihrem Stuhl herum und blickte auf die Zigarettenschachtel, worauf Jess sie ihr zuschob. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Nein, er hat nie was gewonnen, höchstens vielleicht mal einen Kugelschreiber.«
Dennis nickte. Genau wie er vermutet hatte. Der Junge suchte nur Abwechslung. »Interessierte er sich für Musik oder Autos oder Glücksspiele?«
»Hm, nicht sehr. Er hat gern gelesen, genau wie ich, und manchmal sind wir zusammen ins Kino gegangen. Einmal hat er für mich gekocht. Nudeln.«
Dennis machte sich hastig Notizen, dann schaute er Dayna an. Sie schien am Boden zerstört, als sei für sie eine Welt zusammengebrochen, was ja angesichts des Lebens, das sie normalerweise führte, auch stimmte. »Was hielt Max von dem Bandenunwesen hier in der Gegend, Dayna? Wurde er jemals gedrängt, einer Bande beizutreten?«
»Da waren diese Jungs in der Siedlung, wo sein Vater wohnt. Die haben jedes Mal Zoff gemacht, wenn er hinging. Nicht, weil er bei ihnen mitmachen sollte, sondern weil er durch ihr Revier musste, wenn er seinen Vater besuchte.«
Dennis musste sich beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen. Das alles war ihm ein Rätsel, auch wenn er tagtäglich damit zu tun hatte. Plötzlich sehnte er sich nach Estelle und nahm sich vor, sie später anzurufen. »Haben sie ihm jemals etwas getan?«
»Einmal …« Es ging dem Mädchen offensichtlich sehr nahe, denn ihr kamen die Tränen. Sie legte den Kopf in den Nacken, um
Weitere Kostenlose Bücher