Der fremde Sohn (German Edition)
Carrie an, deren Wange feuerrot war.
»Du wirst mir sagen, wer meinen Sohn getötet hat.« Jedes einzelne Wort war eine Drohung, jede Silbe ein Schlag. Sie wandte nicht die taktischen Kniffe und Überredungskünste aus Reality Check an, sondern jagte Dayna schlichtweg Angst ein. Carrie hielt sich die Hand an die Wange. »Du wirst mir die Wahrheit sagen.«
Vergangenheit
C arrie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben nervös gewesen zu sein. Unsicher, das schon, dafür hatte ihr launischer Vater während des größten Teils ihrer Kindheit gesorgt. Auch beklommen – beispielsweise als sie den Schritt vom Zeitungsjournalismus zur Fernsehmoderation wagte. Und sie war in ständiger Sorge gewesen, ob sie der Verantwortung als Mutter gewachsen war. Aber nervös – nie. Bis auf den heutigen Tag. Denn heute führte sie im landesweiten Fernsehen live ein Interview mit einem Mann, der im Verdacht stand, seine gesamte Familie ermordet zu haben.
Die Polizei wollte ein Geständnis.
Es war Ende der Neunzigerjahre, und Reality Check lief erst seit drei Monaten. Doch die Verantwortlichen beim Sender hatten schon nach der vierten Folge grünes Licht für eine Fortsetzung der Sendung im neuen Jahrtausend gegeben. Die Einschaltquoten waren bereits höher als die aller anderen Unterhaltungssendungen, die zur gleichen Sendezeit liefen, und Carrie, eine bis dahin praktisch unbekannte Moderatorin, war über Nacht berühmt geworden. Ihr Gesicht erschien in allen Frauenzeitschriften, es gab Interviews mit ihr in der Boulevardpresse und Auftritte im Frühstücksfernsehen ebenso wie in abendlichen Talkshows. Sie war erschöpft und heiser, und ihr Fußknöchel tat ihr weh, nachdem sie im Getümmel der Fans vor dem Bühneneingang auf regennasser Straße ausgerutscht war. Unter lautem Geschrei hatten sie ihr mit Papier und Stiften vor der Nase herumgefuchtelt, ihre Haare und ihr Gesicht betatscht. Mit vorgeschobener Schulter und ausholenden Armbewegungen drängte ihr Bodyguard die Menge schließlich auseinander und bahnte Carrie eine Gasse. Dann half er ihr auf die Beine und schob sie in den Wagen. Sie stand unter Schock und brachte kein Wort hervor, und während der Fahrt nach Hause schwoll ihr Knöchel so stark an, dass sie den Schuh ausziehen musste.
»Die kann ich unmöglich anziehen«, sagte Carrie eine Stunde vor der Sendung zu der Stylistin, die ihr mit einem dicken, weichen Pinsel über die Wangen fuhr und ihr dabei flüchtig in die Augen sah. »Besorgen Sie mir ein Paar flache.« Es war das erste Mal, dass sie in einem leicht gereizten Ton sprach. Jeden Morgen, wenn Carrie erwachte, rief sie sich ins Bewusstsein, welch großes Glück es war, dass ihre Showidee ein so enormer Erfolg geworden war. Diesen Erfolg wollte sie sich nicht verderben, indem sie sich selbst in den Ruf brachte, zickig zu sein. »Ich kann einfach nicht darin laufen.« Sie musste husten und spürte einen Schmerz tief in der Brust.
Sie zog die cremefarbenen Pumps mit den schwindelerregend hohen schwarzen Absätzen aus. Es waren tolle Schuhe, das musste sie zugeben, aber nicht das Richtige für diesen Abend. Kurz zuvor hatte sie einen Blick auf den Mann werfen können, den sie heute interviewen wollte. Interviewen? Wohl besser auseinandernehmen, hatte Dennis gesagt. Sie hatte Herzklopfen bekommen, als sie am Schminkraum für die Studiogäste vorbeiging und im Spiegel seinen leeren, kalten Blick, das ausdruckslose Gesicht sah. Nun, immerhin waren gerade erst seine Frau und seine zwei Töchter verbrannt.
»Und dieser Ausschnitt gefällt mir auch nicht. Haben wir nicht etwas Gefälligeres? Ich sehe ja aus wie eine altbackene Lehrerin.« Carrie wartete, während eifrige Hände eilig die Knöpfe der hellen Seidenbluse öffneten, die Schleife lösten und ihr das Kleidungsstück von den Schultern streiften. Jemand legte ihr einen Bademantel um.
»Wie wär’s mit dem? Oder mit dem hier? Oder dem?« Eilfertig hielt die Stylistin ein halbes Dutzend Blusen und andere Oberteile hoch, die perfekt zu ihrer hellgrauen Hose passten. Viel mehr als bei jeder anderen Sendung rissen sich die Modedesigner geradezu darum, ihre neueste Kollektion für die Show zur Verfügung zu stellen. »Das erleichtert mir die Arbeit«, hatte die erfahrene Stylistin erklärt. Jetzt wählte sie einen Bügel mit einer babyblauen Bluse aus und hielt ihn Carrie an die Schulter.
»Scheußlich«, sagte Carrie. »Die ziehe ich nicht an.«
Die Stylistin trat einen Schritt zurück und sagte
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