Der fremde Sohn (German Edition)
Pech.«
»Pech!?« Der scharfe Ton ließ das Mädchen zusammenzucken. Carrie nahm die Schlafanzughose und drückte sie sich vors Gesicht, um seinen Geruch einzuatmen, die letzten Reste ihres Sohnes einzufangen, den sie zu kennen geglaubt hatte. Doch durch den Stoff bekam sie keine Luft. Sie ging zu dem Wäschekorb in der Ecke, hob den Deckel an und ließ die Hose auf die übrigen Wäschestücke fallen. »Als würde ich das hier noch jemals waschen«, sagte sie leise mit dem Rücken zu Dayna.
Dayna erkannte, dass jede weitere Erklärung zwecklos wäre. Sie hatte durchaus Mitleid mit der Frau, noch mehr jedoch mit sich selbst. Sie ging in Max’ Zimmer umher und schaute sich alles an. Es war, als habe er ihr etwas hinterlassen, eine andere Seite von ihm, die es zu entdecken galt, jetzt, da er fort und alles zu spät war.
»Er fehlt mir so«, sagte Dayna schließlich. »Wir haben zusammen geraucht und geredet und gelacht.« Als sie Carries Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Da ist doch nichts dabei. Alle rauchen.«
Carrie Kents Augen verengten sich, und Dayna rechnete schon damit, sie werde gleich aus der Haut fahren, doch nichts geschah. In diesen Augen lag eine solche Trauer, dass Dayna die Frau am liebsten in den Arm genommen hätte – etwas, das ihr bei der eigenen Mutter niemals in den Sinn gekommen wäre. »Setzen Sie sich doch ein bisschen hin.«
Carrie stand hilflos da, die Arme vom Körper abgewinkelt, die Beine leicht gespreizt, und schwankte hin und her wie im Takt einer fernen Musik.
»Setzen Sie sich doch, dann schauen wir uns zusammen die ganzen Sachen an. Das hier hat er gern gemacht, nicht?« Dayna hob einen Packen Papier vom Boden auf. Warum bloß hatte er sie nie hierher mitgenommen?
»Was ist das?«, fragte Carrie und ließ sich aufs Bett sinken.
»Zeitschriften, Zeitungsausschnitte. Broschüren und Notizen zu Webseiten und Fernsehsendungen.« Dayna blätterte den Stapel durch und reichte ihr einige Ausschnitte. »Sie wissen schon, die Preisausschreiben.«
»Was?«, fragte Carrie mit unsicherer Stimme.
»Er machte gern bei Preisausschreiben mit. Es war fast wie eine Sucht.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Dayna sah zu, wie sie in den halbausgefüllten Teilnahmescheinen blätterte. Max’ Handschrift war krakelig, und anscheinend war sein Stift fast leer gewesen.
»Er hat eine Menge Zeug gewonnen …« Dayna verstummte und biss sich auf die Lippe, um nicht noch mehr zu verraten.
»Er hat etwas gewonnen?«
Dayna dachte an die Kartonstapel in Max’ Bude. Was er nicht alles gewonnen hatte. Einmal hatte er ihr erzählt, dass er einige von den Sachen schon eine halbe Ewigkeit besitze und nicht wisse, was er damit anfangen solle. »Er hatte eben einfach Glück, schätze ich.«
Max’ Mutter dachte über das Gehörte nach, und Dayna sah ihr an, dass zahllose Fragen sie bedrängten. Doch diese Fragen würde sie ihr niemals stellen. Schließlich war sie ja nur ein dahergelaufenes Mädchen aus einer Sozialsiedlung, das niemand leiden konnte. Was wusste sie schon?
Daynas kleinlaute Stimme unterbrach das lange Schweigen: »Es war grässlich«, sagte sie und knibbelte an ihren Fingernägeln. »Ich werde niemals sein Gesicht vergessen, als … es passierte.«
»Glaubst du etwa, das macht dich zu etwas Besonderem?«
Dayna schrie auf, als ihr Kopf mit einem Ruck nach hinten geschleudert wurde. Carrie hatte sie an den Schultern gepackt und grub ihr die Nägel ins Fleisch.
»Glaubst du, nur weil du am Ende bei ihm warst und ihn hast sterben sehen, hat er dich mehr geliebt?«
»Nein, ich –«
»Ich war schließlich von Anfang an da. Ich war es, die ihn zur Welt gebracht hat. Die an seinem Bett gesessen hat, wenn er nicht schlafen konnte. Ich war es, die sich totgearbeitet hat, damit er nur das Beste bekam, ich war es, die –«
»Aufhören!« Dayna riss sich los. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Lippen kribbelten. Plötzlich war alles wieder da, die Erinnerungsfetzen wirbelten durcheinander, als sei ihr Kopf ein einziger großer Mixer: Blaulicht, Sirenen, schreiende Schüler, Blut, der Geruch nach Pommes, die weißen Turnschuhe, das höhnische Johlen der Bande, als sie davonrannte …
Ohne zu wissen, was sie tat, holte Dayna aus und versetzte Carrie eine Ohrfeige. Die Wut, diese überschäumende Wut kochte wieder in ihr hoch. »Es ist eben passiert!«, brüllte sie. »Da war dieses Messer. Wie aus dem Nichts aufgetaucht. Und dann war es vorbei.«
Zitternd blickte sie
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