Der fremde Sohn (German Edition)
großen dunklen Augen Tränen standen. Für sie spiegelte sich darin die ganze Welt mit all ihren Geheimnissen.
»Nein«, erwiderte sie und wollte ihn am Arm fassen, doch er wich ihr mit einer ruckartigen Bewegung aus. Eine Horde Jungen rannte an ihnen vorbei und stieß sie dabei mit ihren Rucksäcken an. Einer von ihnen knurrte etwas davon, »es ihr zu besorgen«.
»Genau darum geht es doch, oder?«, sagte Max.
»Um was?« Auch Dayna war jetzt den Tränen nahe. So konnte er doch nicht mit ihr umgehen, nach all den gemeinsamen Erlebnissen der vergangenen Monate. Sie hatten so viel miteinander geredet. Stundenlang hatten sie am Bach gesessen, gegessen und mit Steinen nach dem Sperrmüll geworfen. Ganze Nachmittage lang waren sie durch die Geschäfte gestreift und hatten sich mit Süßigkeiten vollgestopft, bis ihnen schlecht wurde. Und sie hatten sich geküsst.
»Darum, dass wir es nie – na, du weißt schon – es nie tun werden, nicht wahr?«
Ihr wurde ganz heiß. Er sprach sonst nie über so etwas. Dabei sehnte sie sich nach größerer Nähe. »Aber ich hab doch gesagt, dass ich es will.«
»Ja, schon, aber irgendwie zeigst du es mir nie. Ich weiß einfach nicht mehr, was für eine Beziehung wir eigentlich haben.« Wütend fuhr sich Max mit den Händen durchs Haar. Sein Gesicht verriet seinen inneren Kampf. Er wandte sich halb ab und rückte den Riemen seines Rucksacks zurecht. »Weißt du, die anderen haben recht. Ich bin wirklich ein verdammter Versager.«
Daynas Verlangen schlug in Wut um. »Du brauchst mich also nur, um zu beweisen, dass du kein Vollidiot bist, ja? Und was hast du vor? Willst du Bilder bei Facebook einstellen?«
»Dayna …« Max stand mit hängendem Kopf da und bohrte mit dem Absatz im bröseligen Asphalt. »Es geht nicht um andere. Ich, na ja, ich fahr wirklich voll auf dich ab, aber … ich weiß nicht …«
»Jetzt«, sagte Dayna klar und deutlich. Der Schulhof war nun leer bis auf ein Dutzend Kids, die am Tor herumlungerten. »Tun wir es jetzt.«
»Wie meinst du das?«
Dayna bemerkte, dass sich etwas in Max veränderte. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Die Muskeln an seinem Hals spannten sich an, und seine Wangenknochen – die ihr schon immer so gefallen hatten – traten noch stärker hervor, was ihm ein gefährliches und zugleich verängstigtes Aussehen verlieh. Wie verrückt sie nach ihm war! Jetzt musste sie alles auf eine Karte setzen, sonst würde sie ihn verlieren.
»Lass es uns tun. Jetzt gleich. Im Keller.« Vielleicht hatte ja jemand auch bei ihr einen Schalter umgelegt, denn ehe sie es sich versah, hatte Dayna Max an der Hand gefasst und zog ihn im Laufschritt zurück zur Schule. Eigentlich waren sie auf dem Weg zum Physikunterricht gewesen, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Jetzt kam es nur noch darauf an, dass sie Max zeigte, wie sehr sie ihn liebte, wenn sie es ihm schon nicht sagen konnte. Sie würde nicht zulassen, dass andere einen Keil zwischen sie trieben wie bei Romeo und Julia. Wenn auch nur eine Sache in ihrem Leben gutging, dann sollte es ihre Beziehung zu Max sein.
»Schnell«, flüsterte sie, als sie über den menschenleeren Flur rannten. Ihr war klar, dass sie Max aus der Fassung gebracht hatte. »Ich will dich«, hörte sie sich selbst sagen, während sie sich an den Putzsachen vorbeidrückten, die immer in der Kellertür standen. Sie stieß einen Eimer um, und das Scheppern hallte durch den Raum, der bald der Schauplatz ihrer schönsten Erinnerungen werden sollte. Max’ Augen glänzten im Dunkeln. Dayna zog ihn an der Hand weiter. Er schluckte und öffnete den Mund, doch es kam kein Laut. »Sag jetzt nichts«, bat sie. »Es wird alles gut.«
Max blickte sich um, ohne den Abfall wahrzunehmen, der seit ihrem letzten Besuch auf den Abdecktüchern lag. Irgendetwas roch verdorben – wahrscheinlich die ausgekratzte Packung Leberpastete –, und wo er ein wenig Cola verschüttet hatte, war noch immer ein klebriger Fleck.
Und hier sollten sie jetzt gleich Sex haben?
Dayna zog ihn zu dem Lager, das sie sich auf dem Boden bereitet hatten. Es war reichlich armselig, doch für ihn war es der schönste Platz der Welt. Seit er Dayna kannte, sandte sie Signale aus, die er einfach nicht deuten konnte. Manchmal kam es ihm vor, als wolle sie ihn mit ihrer neckischen Art anstacheln, als wolle sie tatsächlich mehr, an anderen Tagen wieder war sie kalt und abweisend. In Dayna sah Max sich selbst. Sie waren beide verkorkst.
»Was machst
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