Der fremde Sohn (German Edition)
hat ergeben, dass die Bauchwunde von einer fünfzehn Zentimeter langen glatten Klinge stammt. Also haben wir unsere Tatwaffe.«
»Na also.«
»Na also was? Dayna hat gelogen, ganz offensichtlich. Sie sagte, es war ein Butterfly.«
Jess schüttelte den Kopf. »Hätten Sie unter diesen Umständen darauf geachtet, um was für ein Messer es sich handelte? Das arme Kind musste mitansehen, wie sein Freund erstochen wurde.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Sie weiß mehr, als sie sagt. Ob sie jemanden decken will? Oder hat sie einfach Angst zu reden?«
»Klar, Angst vor Leuten wie uns«, entgegnete Jess. »Sie ist traumatisiert, trauert um ihren Freund, hat ein beschissenes Zuhause und wird in der Schule gemobbt. Natürlich ist sie zugeknöpft. Ich lasse sie holen, aber wir müssen behutsam vorgehen.«
»Das sagt die Richtige«, knurrte Dennis und ging davon. Dann fiel ihm die E-Mail ein, die er vorhin empfangen hatte. Er machte kehrt und sah gerade noch, wie Jess ihm den Stinkefinger zeigte. »Die Wunden deuten übrigens darauf hin, dass der Täter kleiner war als das Opfer«, sagte er.
»Das würde auf Samms und auf Driscoll passen. Die sind beide eher kurz geraten.«
»Max war mit seinen einsachtundachtzig größer als die meisten. Außerdem ist das Messer unter dem Arm eingedrungen. Der Täter scheint nicht besonders geschickt im Umgang mit Messern gewesen zu sein.« Dennis gab Jess den Stinkefinger zurück, dann machte er sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten.
»Kein Kommentar«, antwortete Dayna Ray auf jede Frage, die Dennis ihr im Verlauf der anderthalbstündigen Vernehmung stellte. Diesmal hatte die Mutter ihre Tochter aufs Revier begleitet, zweifellos, weil es dort Gratiszigaretten gab. Sie paffte wenigstens zehn Stück, während sie ihre Tochter immer wieder davor warnte, auch nur ein Wort zu sagen. Als sie gingen, war das Mädchen in Tränen aufgelöst. Seine Mutter zerrte sie am Arm hinter sich her, in der anderen Hand die Schachtel mit den übrigen Zigaretten. Als sie fort waren, saßen die beiden Detectives in dem verqualmten Raum.
»Reizende Lady«, bemerkte Dennis und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. Er war so übermüdet, dass er glaubte, nie wieder schlafen zu können.
»Ich fand es interessant«, entgegnete Jess Britton, doch noch bevor sie den Grund dafür erklären konnte, steckte eine junge Polizistin den Kopf zur Tür herein.
»Eine Nachricht für Sie, Sir.« Sie reichte Dennis eine Notiz der Telefonzentrale, nickte knapp und ging wieder.
Dennis las die Nachricht und gab den Zettel an Jess weiter, die die Augenbrauen hochzog und einen leisen Pfiff ausstieß. »Was machen wir jetzt?«
»Soll sie ruhig in die Sendung gehen«, sagte er. »Wenn einer das Mädchen zum Reden bringen kann, dann ist es Carrie.«
»Das ist der Beweis dafür, dass früher einmal alles ganz normal gelaufen ist«, sagte Carrie, die auf dem Boden saß, ein Fotoalbum auf den Beinen. Sie fühlte sich noch immer gedämpft und ruhig, wie kurz vor dem Erwachen.
»Meinst du, es ist eine gute Idee, dir diese Bilder jetzt anzusehen, so kurz nachdem …«
»Dazu sind sie da.« Carrie blickte zu Leah auf. »Damals war es mir nicht bewusst, aber ich habe diese Aufnahmen für den Tag gemacht, an dem nichts von alldem mehr da wäre. Wenn ich daran denke, wie verzweifelt ich war, als Max als Baby schrie, wie oft ich darüber gejammert habe, dass Brody so spät nach Hause kam und mir die Arbeit über den Kopf wuchs … Wenn mir nur einmal der Gedanke gekommen wäre, dass all das eines Tages nicht mehr da sein würde … dass es sich, zack, einfach so in Luft auflösen könnte« – sie machte eine kraftlose Geste –, »dann hätte ich … dann …«
Sie konnte den Satz nicht beenden.
»Hier, nimm die.« Leah ging neben ihr in die Hocke und hielt ihr zwei Tabletten auf der flachen Hand und ein Glas Wasser hin. »Wenn du magst, mache ich dir auch was zu essen.«
Carrie schüttelte den Kopf. Sie schluckte die Pillen und blätterte weiter in dem Album. Jedes Bild war säuberlich beschriftet, die Alben standen in der richtigen Reihenfolge im Regal. Brody hatte sich immer darüber lustig gemacht. Er zog es vor, seine Fotos in einem Schuhkarton unter dem Bett aufzubewahren.
»Das ist der Unterschied zwischen uns«, hatte sie einmal zu ihm gesagt. »Ich lege Wert darauf, die Dinge unter Kontrolle zu haben, du nicht.« Sie hatte es immer seltsam gefunden, dass ein Mathematiker wie Brody im Chaos
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