Der fremde Sohn (German Edition)
lebte.
»Aber es gibt nichts Chaotischeres als die Mathematik. Komm mal in eine meiner Veranstaltungen, du wirst dich wundern«, hatte er einige Monate vor ihrer Heirat gesagt.
Carrie war tatsächlich in den Hörsaal gekommen und hatte sich in eine der hinteren Bänke gesetzt, um etwas über die »Schönheit der Mathematik« zu lernen. Sie hatte kein Wort von dem verstanden, was ihr zukünftiger Ehemann den achtunddreißig unausgeschlafenen Erstsemestern erzählte, doch ihr war klar: Er hatte sie alle – bis auf eine Studentin – davon überzeugt, dass es in dem von ihnen gewählten Fach Eleganz und Perfektion in Fülle gab.
»Aber liegt denn auch Schönheit im Irrtum?«, fragte das Mädchen nervös und erhob sich, doch Brody gab ihr einen Wink, sich wieder zu setzen.
Carrie gefiel es, wie zwanglos er mit seinen Studenten umging.
»Aha!«, rief er und fuchtelte vor Begeisterung mit den Armen. »Eine wahre Mathematikerin in unserer Mitte.« Carrie bemerkte, dass das Mädchen errötete, als die anderen Studenten sie anstarrten. »Unsere Fehler, Miss …«
»Caldwell«, ergänzte sie.
»Unsere Fehler, Miss Caldwell, sind das Schönste an der Mathematik. Nur durch sie können wir am Ende die Wahrheit erkennen.«
Das Mädchen nickte langsam, die Stirn nachdenklich in Falten gelegt. »Und was wäre, wenn es gar keine Fehler gäbe?« Sie kaute an ihrem Bleistift. Carrie fiel auf, wie jung sie aussah.
»Dann, Miss Caldwell, entgingen Ihnen womöglich die wohl phantastischsten, atemberaubendsten Erfahrungen, die das Leben für Sie bereithält.«
»Weißt du«, sagte Carrie nun, »kurz bevor Brody blind wurde, ist er herumgelaufen und hat alles vermessen.« Als sie das Glas auf einen Hocker stellte, schwappte das Wasser darin hin und her.
»Tatsächlich?« Leah hatte inzwischen ein Tablett mit zwei Tassen Suppe und Brötchen aus der Küche geholt.
Carrie nickte. »Damals verstand ich nicht, was das sollte. Er hat ganz präzise alle Maße unseres Hauses notiert, vom Abstand zwischen den Stühlen bis zur Höhe des Lichtschalters und der Größe der Löcher im Sieb. Und als er drinnen fertig war, ging er hinaus in den Garten und tat dort dasselbe. Er war wie besessen, Leah. Erst als er alles zu seiner Zufriedenheit vermessen und notiert hatte, verlor er das Augenlicht.«
»Himmel, das ist ja geradezu unheimlich«, entfuhr es Leah.
»Und dann, als er vollständig blind war, ließ er einen Trupp Möbelpacker kommen und das ganze Haus umräumen.« Carrie warf einen Blick auf die Suppe, und Übelkeit stieg in ihr auf. »Die Schönheit läge im Irrtum, sagte er, und dass er das jeden Tag von neuem entdecken wollte, indem er jede Menge Fehler machte.«
»Das kann einem richtig Angst machen, Carrie.« Leah setzte sich neben sie, nahm eine Suppentasse und sagte: »Du solltest etwas essen.«
»Ich möchte wissen, ob er auch in dem hier Schönheit erkennen kann.« Als die Tabletten in ihrem leeren Magen ihre Wirkung entfalteten, begann Carrie zu zittern. »Er war zu dumm, um zu bemerken, was vor seiner Nase vor sich ging«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Carrie …«
»Er hat gesagt, er wusste es, Leah.« Carrie versuchte aufzustehen, doch die Beine versagten ihr den Dienst, so dass sie aufs Sofa sank. »Brody hat mir erzählt, er wusste, dass Max gemobbt wurde, und er hat nichts dagegen unternommen.« Sie sprach leise, aber mit schneidender Stimme, jede Silbe eine Anklage gegen ihren Exmann. Sie brauchte etwas, wogegen sie ihre Wut richten konnte. »Max hat viel Zeit mit seinem Vater in diesem Dreckloch verbracht, das Brody sein Zuhause nennt.« Wieder versuchte sie aufzustehen. Ihre Stimme klang immer aufgebrachter. »Kein Wunder, dass der arme Junge in schlechte Gesellschaft geraten ist. Was hat sich Brody nur dabei gedacht, ihn dorthin kommen zu lassen? Wenn er selbst so leben will, ist das seine Sache, aber unseren Sohn hätte er da nicht mit reinziehen dürfen.«
»Beruhige dich, Carrie …«
Plötzlich schlug Carrie mit der Hand von unten gegen die Suppentasse, worauf ein Schwall Tomatensuppe in hohem Bogen durch das Zimmer spritzte. Leah schnappte erschrocken nach Luft. Sie berührte Carrie an der Schulter, wollte sie in den Arm nehmen, doch die stieß sie weg.
»Es ist seine Schuld!«, kreischte Carrie. »Brody hat unseren Sohn auf dem Gewissen!« Sie rappelte sich auf und stürmte hinaus. Sie musste mit ihm reden, ihm klarmachen, was er getan hatte. »Wollen wir doch mal sehen, ob
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