Der fremde Sohn (German Edition)
genommen.«
»Warum hast du sie dann geheiratet?«
»Weil sie anders war«, antwortete Brody, ohne zu zögern. Deshalb hatte er sich auf den ersten Blick zu Carrie hingezogen gefühlt, doch genau das hatte letztendlich auch zum Bruch zwischen ihnen geführt. Carrie hatte die Scheidung eingereicht – wegen unüberbrückbarer Differenzen, wie sie sagte –, und Brody hatte es kampflos hingenommen. Jetzt bedauerte er das, doch es war zu spät. Stattdessen hatte er sich selbst bestraft, indem er nach Westmount gezogen war. So wurde er jeden Tag aufs Neue daran erinnert, was er verloren hatte. Er wusste genau, was für ein Dreck ihn dort draußen umgab, doch er war auch dafür blind und gefühllos.
»Ist dein Mädchen auch … anders?« Brody kannte die Antwort, aber er wollte sie von Max hören.
Doch der ignorierte die Frage und gab stattdessen zurück: »Warum habt ihr euch getrennt? War es, weil Mum berühmt wurde?«
Brody lachte. »Du glaubst also, sie hätte den verschrobenen, unterbezahlten Matheprofessor für die glitzernden Verlockungen des Starruhms sitzen lassen?«
»Der Gedanke ist mir schon gekommen.«
»Deine Mutter hat schon immer sehr viel Wert auf ihre Selbständigkeit gelegt. Sie muss immer alles unter Kontrolle haben, und wenn …« Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden, aber Max sollte sich wenigstens ein ungefähres Bild machen können. »Wenn sie das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren, bekam sie einen Koller und unternahm einen Befreiungsschlag. Verstehst du, dann musste sie alles abschütteln.«
»Und über dich hat sie die Kontrolle verloren?«
»Kann sein«, antwortete Brody lachend und dachte an den Tag, an dem er endgültig sein Augenlicht verlor und seine Welt dunkel wurde. »Weißt du, als ich blind wurde, war das auch für sie schwer zu ertragen. Wir lebten in verschiedenen Welten, im wahrsten Sinne des Wortes.« Brody versuchte, sich seinen Sohn vorzustellen, wie er dasaß und sich anstrengte, sich einen Reim auf alles zu machen. »Aber für das, was mit dir los ist, bin ich nicht blind, mein Sohn. Ich schlage also vor, wir essen zusammen eine Pizza und du erzählst mir alles.« Auf diese Weise konnten sie wenigstens noch ein paar gemeinsame Stunden verbringen. Brody machte sich Sorgen, weil Max ihn nicht mehr so oft besuchen kam wie früher.
»Nein, danke, Dad. Ich muss noch Schularbeiten machen.«
Falsche Antwort, dachte Brody. »Wir könnten doch noch ein bisschen miteinander reden.«
Brody spürte, wie die Spannung im Raum wuchs, bis die Luft förmlich knisterte. Er wartete.
»Miteinander reden?! Bisschen spät dafür, was?«, brüllte Max plötzlich los und trat gegen etwas. Dann heulte er herzzerreißend auf und stieß etwas um – es klang wie der Couchtisch. Brody sprang auf und tastete nach seinem Sohn. Dabei stolperte er und taumelte.
»Nein, Max, nicht …«
Noch mehr Krach und Fluchen. Für einen Augenblick bekam Brody Max am Arm zu fassen und versuchte, seinen Sohn an sich zu ziehen. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun sollen. »Bitte, Max, sei doch vernünftig. Lass uns reden. Ich weiß, in deinem Leben sind ein paar beschissene Sachen passiert, aber …« Etwas flog durchs Zimmer. »Ich weiß von diesen Jungs.«
»Einen Scheißdreck weißt du! Du bist blind und bist es schon immer gewesen.«
Schritte polterten, dann schlug eine Tür zu. Max war fort. Brody bahnte sich einen Weg durch die Trümmer. Als er sich bückte und auf dem Boden herumtastete, schnitt er sich an einer Glasscherbe. Er steckte seinen blutenden Finger in den Mund. Dann zündete er sich eine Zigarette an, konnte jedoch den Aschenbecher nirgends finden, also öffnete er das Fenster und schnippte die Asche hinaus. Er schloss die Augen – es machte keinen Unterschied. Warum lief er nicht immer mit geschlossenen Augen herum?
Dienstag, 28. April 2009
B rody rief beim Fernsehsender an und ließ Carrie ausrichten, sie solle ihn zurückrufen, da er die Telefonnummer seiner Exfrau nicht zur Hand hatte. Er hatte seit ihrer Scheidung mehrmals daran gedacht, sie anzurufen und mit ihr über ihren gemeinsamen Sohn zu sprechen, hatte es aber immer wieder aufgeschoben. Es fiel ihm unglaublich schwer, sich mit Carrie auseinanderzusetzen. Sie hatte sich so verändert, für ihn war sie zu einer Fremden geworden. Dabei hatten sie beide gleich viel zu ihrer Entfremdung beigetragen, doch das wollten sich beide nicht eingestehen – bis heute.
»Hallo? Carrie?«, sagte er, als
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