Der fremde Sohn (German Edition)
zusammengekniffenen Augen spähte er durch den Rauch zu den Jungen hinüber, die sich jetzt gegenseitig herumschubsten.
»Nun geh schon in die Scheißschule, Mann«, hörte sie einen sagen.
»Ich hatte Angst, wirklich schreckliche Angst«, sagte sie, an Carrie gewandt. »Es waren so viele, und wir waren nur zu zweit. Wir haben versucht, so zu tun, als wäre nichts. Wenn wir zurück zur Schule wollten, mussten wir an ihnen vorbei. Wir hätten uns gleich verziehen sollen, als wir sie sahen. Es ist alles meine Schuld.« Sie sah Carrie an, wie es in ihr arbeitete. Dennoch zog sie ihre Show weiter durch und nannte Daten und Fakten zu Messerstechereien im laufenden Jahr. Wie viele Jugendliche dadurch allein in London ums Leben gekommen waren, wie viele Festnahmen es gegeben hatte. Dayna konnte es kaum fassen. Dann kündigte Carrie an, nach der Werbepause werde es weitergehen.
Plötzlich war Carries Gesicht ganz dicht vor ihrem. Carrie riss sich den Ohrhörer ab und schob die beiden Frauen weg, die sich an ihrem Make-up und der Frisur zu schaffen machten.
»Was wolltest du damit sagen … das Baby ?«
Dayna antwortete nicht. Sie konnte einfach nicht, das schlechte Gewissen schnürte ihr die Kehle zu. Sie würde sich mit Schweigen über die Pause retten. Sie starrte Carrie ausdruckslos an, dann griff sie nach ihrem Glas, trank ein wenig Wasser und lauschte dem aufgeregten Hin und Her zwischen den Sendeleitern, den Kameraleuten und allen anderen, die umherliefen. Über dem ganzen Tumult erhob sich Carries Stimme, ein unablässiges »Warum, warum, warum«. Als jemand sie fragte, ob sie mit der Show weitermachen wolle, drehte sie beinahe durch. »Noch dreißig Sekunden.« Die Ansage verstärkte die Unruhe noch einmal, dann trat Stille ein. Der Countdown lief. Carrie stand mitten auf der Bühne.
»Hier sind wir wieder mit unserer heutigen Ausgabe von Reality Check . Mein Studiogast ist Dayna Ray, die Freundin meines Sohnes, der letzte Woche erstochen wurde. Und an Sie, verehrte Zuschauer, habe ich die dringende Bitte: Sollten Sie sachdienliche Hinweise haben, rufen Sie die eingeblendete Polizeihotline an. Vielleicht wohnen Sie ja in der Nähe der Milton Park School und haben am Morgen des 24. April eine Gruppe Jugendlicher dort herumlungern sehen. Oder Ihr Sohn benahm sich seltsam und hatte Blutspuren an der Kleidung. Haben sich Ihre Kinder am Telefon mit ihren Freunden über die Tat unterhalten, oder waren Sie womöglich selbst daran beteiligt? Sollten Sie irgendetwas über den Fall wissen, auch wenn es Ihnen unwichtig erscheint, dann rufen Sie bitte an. Sie brauchen Ihren Namen nicht zu nennen, und Ihre Auskünfte werden streng vertraulich behandelt. Bevor wir uns nun wieder unserem Gast zuwenden, möchte ich Ihnen einen Film über das Problem der Messerstechereien in London zeigen.«
Die Zuschauer im Studio, die den Film ebenfalls verfolgen konnten, saßen reglos da, nur Carrie stand stolz aufgerichtet und sah zu, wie die Bilder von ihrem Sohn, von bezwingender Musik unterlegt, auf dem Großbildschirm auftauchten, gefolgt von den schwarzen, weißen und asiatischen Gesichtern weiterer Jugendlicher. Sie alle waren tot, erstochen. Allesamt im Laufe des vergangenen Jahres. Danach wurden Aufnahmen vom Schulgelände, von der Spurensicherung bei der Arbeit und sogar von Max’ Zimmer gezeigt. Die Überreste seines Lebens. Dann war der Film zu Ende.
»Und nun« – Carrie atmete tief durch – »wieder zu Dayna.« Den Blick finster auf das Mädchen gerichtet, ging sie zu ihrem Platz und setzte sich. Erst als sie wieder im Blickwinkel der Kameras war, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Wann genau wurde dir klar, dass es Ärger mit der Bande geben würde, Dayna? Du musst ja wirklich große Angst gehabt haben.« Offensichtlich hatte sie beschlossen, vorerst nicht weiter auf das Baby einzugehen.
»Wie gesagt, wir saßen einfach auf dem Mäuerchen und rauchten. Ich hatte es geschafft, dass Max sich ein bisschen beruhigte. Dann kamen diese Typen auf das Gelände und fingen an rumzupöbeln. Zwei von ihnen hatten ziemlich dunkles, strubbeliges Haar, das unter ihren Kapuzen hervorschaute. Einer war unheimlich pickelig, und der andere hatte so kalte Augen. Echt gruselig. Max hatte mir gesagt, er hätte keine Angst mehr vor ihnen und wollte nie mehr klein beigeben. Ich war stolz auf ihn.«
An dieser Stelle wurden Carries Züge ganz weich, und sie schloss für einen Moment die Augen. Dayna folgte ihrem Beispiel.
»He, du
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