Der fremde Sohn (German Edition)
dass er sie liebte. So hatte sie es sich erhofft, als sie in dem Krankenhausbett lag und der Anästhesist neben ihr stand und ihr mit ein paar Scherzen die Angst vor der Operation zu nehmen versuchte. Die Deckenlampen blendeten sie. Die Krankenschwestern unterhielten sich. Dann fasste sie jemand am Handgelenk und sagte, sie werde gleich etwas Kaltes in ihrem Arm spüren und sie solle bis hundert zählen.
»Ich habe die Abtreibung nicht machen lassen. Ich habe es nicht fertiggebracht«, sagte Dayna unvermittelt und stand auf. Starr vor Angst stieg sie die beiden Stufen von der Studiobühne hinunter, auf der sie gesessen hatten. »Aber ich hatte keine Gelegenheit mehr, es Max zu sagen.« Abrupt drehte sie sich zu Carrie um, die jetzt ebenfalls auf den Beinen war. »Er ist in dem Glauben gestorben, ich hätte unser Baby getötet.« Dayna warf den Kopf in den Nacken und weinte.
Carrie starrte sie mit aufgerissenen Augen an. Darin lag ein Ausdruck, den Dayna nicht deuten konnte. War es Zorn oder Glück? Würde Carrie sie schlagen oder umarmen?
»Du bist also noch immer schwanger?« Diese Neuigkeit ließ alles andere in den Hintergrund treten. Zögernd kam Carrie näher, als könne die Wahrheit sie verletzen wie eine Waffe. »Und was heißt das, du hattest das Messer in der Hand?«
Dayna kniff die Augen zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und stieß ein ersticktes Schluchzen aus.
Es war ein langes Messer, ein Küchenmesser. Das schärfste, das sie je gesehen hatte. Es war dasselbe, mit dem Max die Jungs im Park bedroht hatte. Wie die gerannt waren. Mit diesem Messer fühlte sich Max sicher und mächtig. Es war zur Hand, wenn er es brauchte. Kalt, verlässlich, todsicher.
Plötzlich gab es ein Gerangel, so hektisch, dass Dayna kaum wusste, wie ihr geschah.
»Nein, Max! Was machst du da?«, schrie sie. Sie hatte gedacht, es sei alles vorbei, doch da machte er ganz plötzlich einen Satz auf sie zu, und wieder ging alles schief.
Dayna holte tief Luft.
Sie achtete nicht mehr auf die Kameras, die Zuschauer oder die Scheinwerfer.
Sie schwitzte.
»Ich habe Max umgebracht«, sagte sie kalt.
Stille breitete sich aus. In ihrem Kopf und um sie herum. Da war nichts mehr.
Alles löste sich auf, als habe es nie existiert.
Einen Moment lang sah Carrie sie mit versteinerter Miene an, dann trat ein ungläubiger Ausdruck auf ihr Gesicht, und sie streckte die Hand aus, als wolle sie nach jemandem greifen oder sich festhalten. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Sie taumelte.
Das Publikum war vor Schreck wie gelähmt.
»Nein …«
Wie ein Geschoss flog das Wort durch den Raum, und Carrie folgte ihm bis zu der Stelle, wo Dayna stand.
»Ich habe Max getötet«, wiederholte Dayna mit ausdrucksloser Stimme. »Und jetzt tut es mir leid. Ganz entsetzlich leid.« Sie hörte die Worte, doch sie schienen nicht von ihr zu kommen.
Carrie kam ganz langsam näher. »Das hilft jetzt keinem mehr.« Schwitzend vor Erregung, mit rotem Gesicht und glasigem Blick sah sich Carrie nach Hilfe um. Sie schaute zum Bühneneingang, wo Leah stand und in ihr Funkgerät sprach. Auch Dennis war da und flüsterte mit seiner Kollegin. Zwei Sicherheitsleute kamen auf die Bühne, fassten Dayna unter den Achseln, führten sie zu ihrem Stuhl und drückten sie in den Sitz. Dann postierten sie sich rechts und links von ihr. Dayna zitterte. Ihr war eiskalt.
»Ich habe Max umgebracht«, sagte sie noch einmal, damit alle es hörten, und legte die Hände auf den Bauch, als wolle sie ihr Kind vor dem beschützen, was nun kam.
Carrie stand mitten auf der Bühne, mit schlaff herabhängenden Armen, unfähig zu weinen oder zu sprechen. Ihr Kopf war so schwer, dass sie ihn kaum aufrecht halten konnte.
Dayna schluckte und starrte geradeaus. Jeden Augenblick konnte dieser Polizist sie verhaften. Sie würde ihm erzählen, dass sie Max erstochen hatte, als er sich auf sie stürzte, um ihr das Messer abzunehmen, und dass sie nur aus Selbstschutz die ganze Zeit gelogen hatte. Ihre Fingerabdrücke waren auf dem Messer, und sie hatte ein Motiv – den Streit wegen der Abtreibung. Jetzt gab es kein Zurück mehr für sie.
Sie war bereit, die Strafe auf sich zu nehmen. Max hatte geglaubt, sie habe das Kind wirklich abgetrieben. Es war alles ihre Schuld.
Ehe sie begriff, was geschah, hatte er ihr das Messer aus der Hand gerissen. Der kalte Griff entglitt ihren Fingern.
»Nicht, Max!«
Er tänzelte ein paar Schritte rückwärts, das Gesicht verzerrt von den Dämonen, die
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