Der fremde Sohn (German Edition)
hieß es.
Warren war von unzähligen Pflegefamilien weggelaufen, und es war kein Geheimnis, dass er auf der Straße lebte. Er kam nur in die Schule, wenn er umsonst essen oder die sanitären Einrichtungen benutzen wollte. Dayna wusste, dass er an jenem Morgen auf dem Schulhof dabei gewesen war. Sein Gesicht war zwar unter der Kapuze versteckt gewesen, aber sie hatte ihn trotzdem erkannt. Sie wusste auch, warum er es darauf anlegte, eingesperrt zu werden. Dann hätte er ein Dach über dem Kopf und warme Mahlzeiten für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre. Jungs wie er saßen lieber im Gefängnis, als sich draußen durchschlagen zu müssen.
Sollte sie sagen, er sei es gewesen?
Als sie das Messer auf sich zukommen sah, hatte sie blitzschnell Max’ Handgelenk gepackt. Sie hatte keinen Augenblick geglaubt, dass er sie wirklich erstechen wollte. Das hätte er doch niemals getan, oder?
»Max war nicht mehr er selbst«, sagte sie zu Carrie. So viel konnte sie ruhig verraten. Dann weinte sie wieder ein wenig, und Carrie wartete geduldig.
Als Dayna schrie und Max mit der freien Hand das Gesicht zerkratzte, schien er für einen kurzen Moment zu sich zu kommen. Der Hass in seinen Augen erlosch, und er runzelte die Stirn, als versuche er sich zu besinnen, wo er war, was er da tat und warum, um alles in der Welt, er mit dem Mädchen kämpfte, das er liebte.
Er ließ das Messer los, das klirrend auf den Asphalt fiel.
»He, Mann, nur die Ruhe, ja? Sonst gibt’s hier noch ein Unglück.« Warren Lane trat vor und hob das Messer auf. »Hübsch«, sagte er, während er den Griff betastete und mit dem Daumen über die Schneide fuhr. »Du willst dein Mädchen bestimmt nicht abstechen, glaub mir.« Warren lachte und fuchtelte mit dem Messer herum. »Der Knast ist nichts für so einen mickrigen Schisser wie dich, Mann.« Wieder lachte er, mit dieser heiseren Raucherstimme, mit der er zehn Jahre älter klang, als er war. Dann stieß er spielerisch mit dem Messer nach seinen Kumpeln, die zurückwichen.
»Das nimmst du besser, ja?«, sagte er zu Dayna und reichte ihr das Messer mit dem Griff voran, als vertraue er darauf, dass sie keine Dummheiten damit machte. »Und pass auf deinen Typen auf. Der is’ ja heute völlig abgedreht.«
»Max war wirklich außer sich, wissen Sie, wegen dem Baby und allem. Er hatte mir gesagt, ich sollte abtreiben. Also bin ich ins Krankenhaus …«
»Abtreiben?« Carrie packte Dayna am Handgelenk und drehte sie zu sich herum, so dass sie ihr aus nächster Nähe ins Gesicht sehen konnte. In ihren Augen erkannte Dayna die gleiche Trauer wie bei Max.
»Du hast unser Baby umgebracht, verdammt!«, fuhr er sie erneut an. Dayna ließ die Hand mit dem Messer hängen, so dass die Spitze zum Boden zeigte. Es war so lang und scharf. »Und jetzt? Was bleibt uns jetzt? Sag’s mir!« Er hatte Schaum in den Mundwinkeln. »Ich hab gar nichts mehr. Nicht mal dich. Nicht mal das verdammte Baby.«
»Ich war so wütend auf ihn gewesen, als er verlangte, dass ich abtreibe. Als ob das Kind ein Wegwerfartikel wäre. Als ob ich ein Wegwerfartikel wäre.«
Carrie lockerte ihren Griff. Weil sie es sich hier im Fernsehen nicht leisten konnte, gewalttätig zu werden, dachte Dayna. Aber irgendwie schien es ihr, als seien sie gar nicht mehr im Fernsehstudio, sondern weit entrückt in ihrer ganz persönlichen Hölle, wo die eine versuchte, die Wahrheit herauszufinden, während die andere alles tat, damit sie nicht ans Licht kam.
»Beruhige dich doch, Max«, bat Dayna. Die anderen Jungs machten sich schon wieder über ihn lustig. Die konnten gar nicht anders.
»Sag du mir nicht, ich soll mich beruhigen.« Das Seltsame war, dachte Dayna, als sie sich wieder daran erinnerte, dass Max in diesem Moment tatsächlich ganz ruhig war. Für eine Sekunde, für diesen einzigen wunderbaren Augenblick, bevor es geschah, bildete sich Dayna ein, sie könne vernünftig mit ihm reden und ihm erzählen, was sie getan hatte. Dann könnten sie wieder nebeneinander sitzen, sich unterhalten, sich umarmen und diesen beschissenen verregneten Morgen vergessen.
»Ich hatte das Messer in der Hand«, stieß Dayna hervor. Die Zuschauer im Studio hielten erschrocken den Atem an.
»Was? Wie?«, fragte Carrie ungläubig.
Es hätte gut ausgehen sollen. Es hätte damit enden sollen, dass Warren und seine Kumpel abzogen, um woanders Ärger zu machen. Dann hätte Max ihr die Hand auf den Bauch gelegt, das Gesicht in ihre Halsgrube gedrückt und ihr gesagt,
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