Der fremde Sohn (German Edition)
würde nicht funktionieren. Sie konnte einfach nicht die Wahrheit sagen. Schließlich saß sie hier mit Max’ Mutter .
»War Max auch im Unterricht?«
Genau wie die Vernehmungen bei der Polizei, dachte Dayna düster. Bei denen hatte sie sich gerade so herausgewunden. War sie in die Show gekommen, um alle, sich selbst eingeschlossen, davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich nichts wusste? Oder wollte sie gestehen, dass sie zu viel wusste? Sie war nun wirklich drauf und dran hinauszurennen, dabei hatten sie doch gerade erst angefangen. Himmel, sie hatte nur einen Wunsch: Max wieder lebendig zu machen. Das hatte sie wohl mit Carrie gemeinsam.
»Er war bei Mathe«, hörte Dayna sich sagen und sah wieder seinen Rücken vor sich, als er sich über den Tisch beugte, während seine Finger auf dem Taschenrechner tippten. »Aber in Erdkunde habe ich ihn nicht gesehen. Wir haben was über fairen Handel durchgenommen. Max hat mal zu mir gesagt, nichts auf der Welt ist fair.«
Carries Blick brannte noch heißer als die Scheinwerfer. Als sie schwieg, fuhr Dayna fort: »Ich bin dann zur Imbissbude gegangen. Ich war hungrig, ich hatte nicht gefrühstückt. Da waren noch andere Kids von meiner Schule, die schwänzten. Auch ein paar Mädchen aus meiner Jahrgangsstufe.«
»Rück dein Geld raus!«, hatten sie Dayna aufgefordert und mit hasserfüllten Blicken zugesehen, wie sie ihre Tasche leerte. »Die andere auch«, forderten sie, und Dayna gab ihnen das letzte Geld. Dann gingen sie hinein und kauften sich Pommes. Als sie weg waren, schob Dayna ihr Shirt hoch und öffnete den Geldgürtel, den sie darunter trug. Sie hatte ein oder zwei Pfund in die Hosentasche gesteckt für den Fall, dass ihr jemand Geld abnehmen wollte, doch der Zehner, den sie aus Kevs Geldbörse geklaut hatte, steckte sicher in dem Gürtel. Sie bestellte sich eine Portion Pommes und schlenderte gemächlich zur Schule zurück.
»Ich habe gehofft, dass Max mir über den Weg läuft. Wir hatten was zu besprechen«, fuhr Dayna fort. Sie spürte, wie sich auf ihrer Oberlippe Schweißperlen bildeten. Ob sie sich das Gesicht abwischen durfte, oder verschmierte dann das blöde Make-up?
»Was hattet ihr denn zu besprechen?«, fragte Carrie.
Sie starrten einander an. Die Zeit schien stillzustehen.
»In letzter Zeit war zwischen uns einiges nicht so gut gelaufen.«
»Ach ja?«
»Es ging um … um etwas, das ich zu ihm gesagt hatte und das er mir übelgenommen hat. Ich wollte, dass er die Wahrheit erfuhr. Außerdem waren manche in der Schule gemein zu ihm, weil er mit mir ging. Sie haben Gerüchte verbreitet und so.«
Carrie schüttelte den Kopf. Sie wirkte besorgt, ratlos. Dayna konnte sich nicht vorstellen, dass Max’ Mutter nach diesen Worten noch an sich halten konnte. Sie rechnete damit, dass Carrie sie an den Schultern packte, schüttelte und sie anschrie, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Doch seltsamerweise blieb Carrie ruhig und sachlich. Dayna fand das noch schlimmer als einen Wutausbruch.
»Ich habe mich also auf das Mäuerchen gesetzt, meine Pommes gegessen und gewartet, dass Max vorbeikam. Ich wollte mit ihm reden. Die Sache ins Reine bringen, verstehen Sie.«
Die Scheinwerfer blendeten sie wieder, und überall wurden Kameras auf ihren schweren Wagen durch die Gegend geschoben. So viele Leute … und alle Blicke waren auf sie gerichtet.
»Ach, verdammt«, hatte er gesagt, als er endlich kam und sie seinen Namen rief. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass er überhaupt etwas zu ihr sagte. Da hielt sie ihm einfach die Pommes frites hin, als könnte sie ihn damit beschwichtigen.
»Er … er ist rumgetanzt«, sagte sie leise zu Carrie. »Er ist rumgetanzt, und ich wusste nicht, was das sollte. Dabei hat er mit den Armen gefuchtelt, und einmal dachte ich, er wollte mich schlagen. Es sah aus, als ob er den Verstand verloren hätte.«
Dayna hörte, wie die Zuschauer bestürzt nach Luft schnappten, und sah das Zucken in Carries Kehle, als sie schluckte.
»Ich habe ihn beruhigt und ihn dazu gebracht, sich zu mir auf die Mauer zu setzen.«
Dayna spürte wieder den kalten, rauen Zement unter ihrem Hosenboden. Sie trat mit den Fersen gegen die Ziegelsteine und versuchte, sich einzureden, sie sei Herrin der Lage, obwohl es doch in Wirklichkeit Max war, der die Situation bestimmte. Sie aß ihre Pommes frites, und der Essig brannte in dem kleinen Riss, wo sie sich auf die Lippe gebissen hatte.
»War die Bande zu dieser Zeit schon da?
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