Der fremde Sohn (German Edition)
Wurde Max von jemandem bedroht?«
Dayna hörte Carries Worte, doch in Gedanken war sie noch immer dort auf der Mauer, ihre Zunge brannte, sie roch Max’ Aftershave und empfand eine unendliche Trostlosigkeit angesichts dessen, was geschehen war.
»Nein«, antwortete sie. »Die Bande war noch nicht da.«
Sie wusste, Carrie wollte, dass sie auf den Punkt kam und jemanden identifizierte, damit die Telefonleitungen heißliefen. Blaue Augen oder schwarze Haare oder eine Narbe an der Wange? Adidas-Turnschuhe oder zerfetzte Jeans, eine sichtbare Tätowierung oder eine Halskette? Jedes Detail konnte hilfreich sein.
Sollte sie sich etwas ausdenken? Brächte sie es fertig, hier im Fernsehen zu sitzen und zu lügen? So, wie sie es sich vorgenommen hatte?
Wieder hatte Dayna das Gefühl zu schweben. So viel hatte sich in ihr angestaut im Laufe der letzten Woche, in der sie kaum gegessen und geschlafen und nur Cola und Bier getrunken hatte, um ihren rebellierenden Magen zu beruhigen und die Wahrheit zu verdrängen.
Stand sie oder saß sie? War sie auf dem Schulhof oder im Fernsehstudio?
Sie machte einen Schritt nach vorn, doch da war kein fester Boden. Vielleicht saß sie noch immer auf der Mauer. Ja, die Mauer. Und da war Max, er sprang gerade hinunter und hüpfte aufgeregt herum.
»Ich habe ihm erzählt, was ich getan hatte«, sagte Dayna. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. »Ich war so wütend, dass ich es ihm ins Gesicht schrie. Ich habe ihm gesagt, dass ich getan hatte, was er verlangte.«
»Was hat Max verlangt?« Diese Carrie steckte ihre Nase aber auch in alles. »Sag mir, was du damit meinst, Dayna.«
Ein langes Schweigen, nur unterbrochen von einem Wagen, der die Straße an der Schule entlangfuhr, dem dumpfen, rhythmischen Schlag ihres Stiefelabsatzes gegen die Mauer, einem Husten aus dem Publikum.
»Das mit dem Baby«, flüsterte sie. Wiederum Füßescharren, Schock und ungläubiges Staunen im Publikum. Und die weit aufgerissenen Augen dieser Frau neben ihr, die sich ebenfalls an diesem sonderbaren Ort außerhalb von Zeit und Raum zu bewegen schien.
»Das Baby? Was für ein Baby, Dayna? Sag es mir, um Gottes willen, Dayna.«
Sie fühlte eine Hand auf ihrem Arm. War es die von Max oder von seiner Mutter? Dayna erinnerte sich an Max’ unsanften Griff. Daran, wie zornig er gewesen war. »Du hast unser Kind umgebracht!«, sagte er in einem Ton, dass Dayna nicht wusste, ob er schrie oder flüsterte.
Dann ging sie irgendwohin, hinein ins Helle. Jemand folgte ihr. Sie fuhr herum und blickte sich mit großen Augen um wie ein gehetztes Tier. »Dieser Schmerz in mir drin«, sagte sie. »Ich will nur, dass er vergeht.«
»Erzähl mir von dem Baby, Dayna.« Eine Frauenstimme – ein wenig zittrig – und Finger, die sich fester um ihren Arm schlossen. Dayna blickte in Carrie Kents Augen, die in der strahlenden Helligkeit leuchteten. Max’ Mutter . Dayna lächelte sie an. Max war überall, nicht wahr?
»Wir waren ein Liebespaar«, erklärte sie. Ein Raunen lief durch den Zuschauerraum, das jedoch sofort wieder verstummte. »Ich habe ihn geliebt, aber wissen Sie was?« Dayna hörte jemanden lachen. Es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, dass sie es selbst war. »Ich habe es ihm nie gesagt.«
»Ihr hattet ungeschützten Geschlechtsverkehr?«
Dayna nickte, wie sie es getan hatte, als Max sich auf sie legte. »Das sagen Sie doch immer, nicht wahr?« Daynas Worte klangen vage und unbestimmt.
»Was?!«, fragte Carrie empört.
»Dass man verhüten soll.« Dayna schüttelte Carries Hand ab. Sie war es leid, sich herumschubsen zu lassen. »Wir haben es jedenfalls nicht getan, und ich bin schwanger geworden. Ich war von Max schwanger.«
Ein gehauchtes »O mein Gott« war alles, was Dayna hörte, während im Hintergrund das Publikum abermals erschrocken nach Luft schnappte. Es bereitete ihr Genugtuung, dass sie alle geschockt hatte. Dabei war das erst der Anfang.
»Da reden Sie andauernd über Teenager-Schwangerschaften und leichtfertigen Sex. Und wissen Sie was? Ihr eigener Sohn hat es auch getan, direkt vor Ihrer Nase.« Etwas baute sich in Dayna auf. Es ähnelte dem Gefühl, als sie dem Kind die Zigaretten wegnahm. Ein Gefühl der Macht, stark genug, dass sie mit ebenso energischem Schritt durch das Studio hätte gehen können wie Carrie, wenn sie ihre Showgäste einschüchtern wollte. Unvermittelt drehte sie sich zu Carrie um, immer gefolgt von den Kameras, und starrte sie an.
»Na, was sagen Sie
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