Der fremde Sohn (German Edition)
gern schenken.«
Er stellte sich vor, wie Miss Mädchens Gesicht aufleuchtete. Sie ließ den schweren Rucksack fallen, den sie immer mit sich herumschleppte – er war voller Bücher, wie er bemerkt hatte –, und nahm dankbar den Karton entgegen. »Genau das, was ich mir immer gewünscht habe«, sagte sie strahlend. »Jetzt kann ich die Einfahrt reinigen und den Wagen meines Vaters waschen. Und ich kann die Graffiti von der Garagenwand entfernen. Danke, Max. Vielen, vielen Dank!« Und dann stellte sich Miss Mädchen auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss. Einen langen, genüsslichen, feuchten, ausgiebigen Kuss mitten auf den Mund. Er bekam eine Erektion.
Kopfschüttelnd starrte er auf die Liste.
Hochdruckreiniger. Ja, an das Gewinnspiel konnte er sich noch erinnern. Der Preisrichter musste Sinn für Humor gehabt haben. Der Haushaltswarenladen im Ort hatte eine Werbeaktion auf dem Parkplatz veranstaltet. »Zehn Verwendungsmöglichkeiten für einen Hochdruckreiniger«, hatte das Mädchen im Bikini gesagt und Max mit einem Faltblatt vor der Nase herumgewedelt. Er war vorbeigekommen, um eine neue Lampe für sein Fahrrad zu kaufen. »Versuch’s doch mal.« Über die Motorhaube eines Autos gebeugt, hatte er seine zehn Vorschläge aufgeschrieben. Als Letztes, das wusste er noch genau, hatte er geschrieben: Den ganzen Scheiß aus meinem Leben wegputzen .
»Also der Hochdruckreiniger«, sagte er und strich den Posten auf der Liste durch. Daneben schrieb er: Miss Mädchen. Persönliche Auslieferung.
Dayna Ray weinte. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen. Sie waren zurückgekommen, die blöden Ziegen. Vor Angst ging ihr Atem schneller.
»Hallo.« Es war die Stimme eines Jungen, die sie nicht erkannte. Vorsichtig spähte sie durch den Vorhang aus Haaren, hinter dem sie ihr Gesicht mit der schwarz verschmierten Wimperntusche verbarg.
»Was ist?«, fragte sie. Ihr Atem beruhigte sich wieder.
»Das Gleiche wollte ich dich fragen.«
Dayna richtete sich kerzengerade auf. Er war es. Scheiße! »Du brauchst dich gar nicht erst hinzusetzen.« Er sollte verschwinden. Sie wollte nicht, dass er sie so sah.
Als Antwort kickte der Junge eine zerbeulte Coladose aus dem Weg und ließ sich neben ihr auf den Bordstein plumpsen. Als er ihr eine Zigarette anbot, griff sie achselzuckend zu.
»Schlechter Tag?«, fragte er.
»Schlechtes Leben.«
»Dann wirst du das hier gebrauchen können«, sagte er und schob ihr einen Karton hin. Er war in gelbes Papier verpackt.
Dayna betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Aber ich habe doch gar nicht Geburtstag.« Als sie das Paket berührte, fiel ein wenig Asche auf das Papier. Sie wischte sie ab. »Bist du mir gefolgt?«
Der Junge schaute sie an und zuckte mit den Schultern. Sie bemerkte die winzigen Augenbewegungen, mit denen er ihr Gesicht musterte. Sie sah bestimmt furchtbar aus. »Du siehst aus wie ein Vampir«, stellte er lachend fest. »Graf Dracula oder so.« Er blies den Rauch in ihre Richtung. »Na los, mach schon auf. Es ist für dich.«
Dayna sah ihn skeptisch an und seufzte. »Sollten wir uns nicht erst mal vorstellen?« Dann überlegte sie, ob es wohl eine Falle war. Vielleicht steckte in dem Karton lauter Abfall.
Der Junge beugte sich vor und streckte ihr die Hand entgegen. »Max Quinell«, sagte er. »Nullnummer aus der Neunten und anerkannter Außenseiter. Sehr erfreut, dich kennenzulernen.«
Dayna fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie entspannte sich ein wenig. »Dayna Ray, Aschenputtel der Neunten und ebenfalls anerkannte Außenseiterin. Es ist mir ein Vergnügen.«
Sie gaben sich die Hände.
Dayna spürte es, vom Handgelenk über die Schulter bis direkt ins Herz.
Und aus dem Blick seiner Augen, deren Schokoladenbraun plötzlich noch eine Spur dunkler wurde, schloss sie, dass auch er es spürte.
O Gott.
»Was ist es denn nun?« Schniefend, weil sie kein Taschentuch bei sich hatte, riss sie das Papier auf und beäugte den Karton. Sie legte den Kopf schief, um die Aufschrift zu entziffern: »Extra kraftvoller Hochdruckreiniger inklusive rotierendem Reinigungskopf und sechs Metern Schlauch.« Dayna blickte auf und sah Max an.
»Hübsch«, sagte sie und nickte. Dann lachte sie los. Das Lachen spülte alle Angst und allen Hass aus ihrem Körper. Es hallte von den Wänden des feuchtkalten Durchgangs wider, wohin sie sich manchmal zurückzog, und verkündete lauthals der ganzen Welt: Nehmt euch vor mir in Acht, ich besitze jetzt
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