Der fremde Sohn (German Edition)
Rücksitz saß ein weiterer Detective. Seine Knie drückten sich in ihren Rücken.
Sie ließ die Scheibe herunter, legte den Ellenbogen auf die Kante und genoss den Fahrtwind. Währenddessen schlängelte sich der Wagen durch die Menge der Autos, die eilig an den Straßenrand oder auf den Mittelstreifen ausgewichen waren, um sie durchzulassen.
»Ist ja witzig«, bemerkte sie, ohne darauf einzugehen, wie hilflos sie sich vorgekommen war, als Dennis ihr Treffen absagte. »Wie uns die Leute alle Platz machen, das ist schon aufregend.« Für den Rest des Weges sann sie darüber nach, wie sie dieses Gefühl der Überlegenheit zu einem Dauerzustand machen könnte, bis ihr einfiel, dass es ihr ja bereits gelungen war.
»Hier ist es.« Dennis warf unter der Sonnenblende hervor einen Blick auf die Reihe von Häusern mit Sozialwohnungen. Dann zog er den Zündschlüssel ab und sah Carrie an. »Was auch immer du jetzt denkst, Miss Kent, diese Leute haben gerade ihren einzigen Sohn verloren. Also sei bitte –«
»Ich werde nett sein. Ich bin schließlich nicht ganz und gar kaltherzig.« Mit mitleidiger Miene schob Carrie ihre Sonnenbrille hoch. Als sie sich für einen flüchtigen Augenblick in die Lage der Mutter versetzte, die dort in einer dieser trostlosen Wohnungen saß, empfand sie tief in ihrer Brust – was war es, Mitgefühl? Sie schüttelte den Kopf. Die Vorstellung war einfach zu schrecklich. »Also, bringen wir es hinter uns.«
Ohne diese Treffen, bei denen sie Wohnung und Alltag ihrer Opfer, wie Carrie sie nannte, erkundete, wäre Reality Check in seiner gegenwärtigen Form undenkbar gewesen. Die Show war berüchtigt für eine besonders harte Form der Recherche, bei der das Leben von Menschen, die Opfer einer Tragödie geworden waren, gnadenlos offengelegt wurde. Dabei rechtfertigte das Fernsehteam sein Vorgehen mit der Betreuung und Beratung, die den Betroffenen im Anschluss angeboten wurden, und die während der Sendung eingeblendete Nummer der Polizeihotline diente als Deckmäntelchen dafür, dass hier leidende Menschen zur Schau gestellt wurden. Carrie hatte ihre Show einmal mit einem Autounfall verglichen. Man konnte gar nicht anders, als zu gaffen.
»Kommt er mit rein?«, fragte Carrie mit einem Blick auf den jungen Detective, den sie noch nie gesehen hatte. Sie hatte eine – wie sie es nannte – »spezielle Vereinbarung« mit der Kripo getroffen. »Frag mich nicht, das ist alles etwas kompliziert«, hatte sie damals vor ihrer ersten Show zu Leah gesagt und damit ihre vorteilhafte Beziehung zu Dennis gemeint. Das war vor zehn Jahren gewesen. Eine kurze, hitzige Affäre, von der er sich mehr erhofft hatte. Doch sie hatte die Sache beendet, bevor er zu fordernd wurde. Jetzt stand die fünfhundertste Ausgabe ihrer Show bevor. Plötzlich fühlte sich Carrie unglaublich alt und einsam.
Als sie keine Antwort erhielt, sagte sie: »Also los, Detective!« Sie tippte dem jungen Polizisten auf die Schulter.
Der war ganz blass geworden und starrte düster auf die Reihen heruntergekommener Häuser mit ihren Rauputzfassaden. »Hier hat mal ein Kumpel von mir gewohnt«, berichtete er. »Er wurde bei einem Drogendeal umgebracht. Fünfzehn war er damals.«
Carrie lächelte. Das war gut – ein sentimentaler Bulle. »Dann haben Sie ja einiges gemeinsam mit Mrs …« Sie warf einen Blick in ihre Notizen. »Mrs Plummer, nicht? Ihr Sohn starb an einem Messerstich in den Hals, als er sich weigerte, einer Jugendbande sein Handy herauszugeben.« Kopfschüttelnd ging sie davon und wünschte, sie hätte ein Paar dieser Folienüberzüge, wie Chirurgen sie über ihre Schuhe streifen. Denn der Weg war mit Hundehaufen übersät, und nach dem Aussehen des Hauses zu urteilen, würde es drinnen kaum besser sein.
Die Haustür wurde ein paar Zentimeter weit geöffnet, und Carries Blick fiel auf eine so dürre, ausgemergelte und tieftraurige Frau, wie sie noch niemals eine gesehen hatte. Genau in diesem Moment klingelte ihr Handy. Carrie zog es automatisch aus der Jackentasche und schaute auf das Display. Es war ihr Sohn. Sie schluckte und drückte das Gespräch weg. Dafür war jetzt wirklich keine Zeit.
Max Quinell war gern allein. Wenn man solche Eltern hatte wie er, so dachte er, war es wohl ganz in Ordnung, sich hin und wieder für ein paar Stunden zu verdrücken. Von dem Schuppen hier unten wusste niemand.
Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, warf er wie immer einen Blick in die Runde. Es war alles noch
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