Der fremde Sohn (German Edition)
Jugendbande an, Mrs Plummer?« Aus dem Augenwinkel sah Carrie, wie Steve die Frau heranzoomte. Perfekt.
»Nein, nein, er war in keiner Gang. So war Jimmy nicht. Er sah einfach zu, dass er klarkam, verstehen Sie?« Mrs Plummer stemmte sich hoch. Dann stand sie da, die Fäuste geballt, als wolle sie ihre Wut an jemandem auslassen. Carrie klopfte neben sich auf das Sofa. Ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen. Phantastisch.
Die Frau setzte sich.
»Können Sie sich vorstellen, warum jemand Ihren Sohn umbringen wollte, Mrs Plummer … oder darf ich Sie Lorraine nennen?« Carries Stimme war tief, sanft, einschmeichelnd. Sie nahm die Hände der Frau. Steve trat näher an das Sofa heran und fing jeden Augenblick mit der Kamera ein.
»Nein«, flüsterte Jimmys Mutter. »Aber ich will, dass die Polizei sie findet.« Lorraine Plummer warf Dennis und dem jungen Detective einen Blick zu. Sie würden später kurz eingeblendet werden. »Ich will, dass Sie die Dreckskerle schnappen, die das getan haben.« Mit diesen Worten krümmte sie sich zusammen und heulte Carrie den neuen Wollrock voll. Genau in dem Moment begann in deren Jackentasche das Handy erneut zu vibrieren. Der Rock war definitiv reif für die Altkleidersammlung.
»Was denkst du?« Carrie zog einen antiseptischen Handreiniger aus ihrer Tasche und goss sich die halbe Flasche in die Handfläche. »Glaubst du, die weiß etwas?«
Dennis verzog das Gesicht. Bei diesem Verkehr kamen sie kaum voran. »Woher sollte sie? Weißt du, für so eine Bande ist das wie ein Spiel. Die machen das zum Zeitvertreib. Der Junge hat sich eingemischt, und das hatte er davon. So einfach ist das. Wahrscheinlich wird es ein oder zwei Festnahmen geben, damit es aussieht, als würde was unternommen, und das war’s dann. Viele dieser Fälle bleiben ungelöst.« DCI Masters gähnte. »Sollen wir was essen gehen?«
»Nein, natürlich nicht.« Carrie starrte aus dem Seitenfenster. Wie gut, dass sie diesen schrecklichen Ort hinter sich gelassen hatten. Als anstelle der baufälligen Häuser – vielleicht waren sie auch gar nicht baufällig – respektablere Behausungen in Sicht kamen, spürte Carrie, wie sich etwas in ihr löste, etwas, das sie normalerweise fest unter Kontrolle hatte. Ihr war übel, und sie fühlte sich so zittrig wie schon seit langem nicht mehr. Ihr fiel wieder ein, dass ihr Sohn versucht hatte, sie anzurufen, und sie zog ihr Handy aus der Tasche.
»Den«, sagte sie nachdenklich, das Telefon in der Hand.
»Ja?«, antwortete Dennis geistesabwesend, da er gerade an einer belebten Kreuzung abbog.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn es um dich ginge?, hätte Carrie ihn am liebsten gefragt. Wenn es dein Leben wäre? Sie schluckte. »Ach, nichts.«
Dennis sah ein paarmal zu ihr hinüber, während er sich durch den Verkehr quälte, dann lachte er. »Nichts ist auch was.« Er schaltete die Sirene ein.
Carrie versuchte mehrmals, ihren Sohn anzurufen, doch jedes Mal schaltete sich sofort die Mailbox ein.
Brody lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Schwarz. Er stellte sich vor, dass über ihm Tausende von Sternen funkelten, sein eigenes persönliches Sternbild. Niemand außer ihm konnte sehen, was er mit seinen blinden Augen sah. Er rauchte die letzte Zigarette vor dem Einschlafen und trank ein wenig Brandy, um an jenen einsamen, trostlosen Ort zu gelangen, der erfüllt war von Bildern eines längst vergangenen Lebens.
Als er ihn das letzte Mal mit eigenen Augen gesehen hatte, war Max ein tollpatschiger Sechsjähriger gewesen. Brody schaute seinem kleinen Sohn zu, wie er durch ihr behagliches Haus tollte, auf Inlineskates um die Möbel herumkurvte und zum Ärger seiner Mutter beim Festhalten Nippes und gerahmte Fotos herunterriss. Die Inliner hatte er sich zu Weihnachten gewünscht, und es war einfach herrlich zu beobachten, welchen Spaß er damit hatte. Das war viel mehr wert als die albernen Nippesfiguren.
Brody seufzte tief. Die Zeiten waren lange vorbei. Das Bett knarrte unter ihm, als er seine Lage veränderte. Er fragte sich, wer wohl jetzt in dem Haus wohnte und ob die Leute noch das Glück von damals darin spüren konnten.
Als Student hätte er sich nicht träumen lassen, dass er einmal in einem solchen Haus leben würde, aber so war das Leben nun mal. Im Handumdrehen konnte sich alles ändern, so wie damals, als er seine spätere Frau zum ersten Mal sah. Solche Dinge ließen sich nicht mathematisch berechnen, sie passierten
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