Der fremde Sohn (German Edition)
Dingen, die sie sonst noch für ihn tat, dass sie ihm beispielsweise bei der Arbeit mit seinen Studenten behilflich war oder dafür sorgte, dass ihm zu Hause das Toilettenpapier nicht ausging. Sie ist meine Assistentin, sagte er immer. Ich bin dein Augenlicht, dachte sie.
»Was willst du wissen?«
»Fang mit dem Tisch neben der Tür an. Vier Personen, richtig?«
Den Arm auf die Rückenlehne der Sitzbank gelegt, wandte sich Fiona um. »Ja.« Sie würde nie begreifen, wie er das machte. Manchmal zweifelte sie daran, dass er wirklich blind war. »Zwei Männer, zwei Frauen, etwa in den Zwanzigern. Sie wirken ein bisschen, na ja, alternativ. Einer hat eine Strickmütze auf. Die eine Frau trägt einen langen Patchworkrock. Sehen ganz nett aus.« Als einer der Männer ihr einen Blick zuwarf, drehte sie sich wieder zu Brody um. »Würdest du mir vielleicht sagen, was das soll?«
»Der nächste Tisch«, befahl er. Er meinte den am Fenster. Fiona seufzte. »Ein einzelner Mann. Älter, etwa Ende sechzig. Sieht aus, als lebte er allein und –«
»Das reicht. Jetzt geh die Tische der Reihe nach durch. Und stell keine Vermutungen an.«
»Am nächsten Tisch sitzt eine junge Mutter mit einem Kinderwagen zusammen mit einer Freundin. Die beiden trinken Tee. Am Tisch daneben sitzen ein paar Schüler und am nächsten zwei Bauarbeiter –«
»Warte. Bleib bei dem Tisch mit den Schülern.« Brody beugte sich vor, griff nach Fionas Hand und hielt sie fest, bevor sie ihre Kaffeetasse nehmen konnte, die die Kellnerin inzwischen gebracht hatte. »Ich will jede Einzelheit über sie wissen, bis hin zur Farbe ihrer Socken.«
Sprachlos starrte Fiona auf ihre Hand. In den acht Jahren, die sie nun für Professor Brody Quinell arbeitete, war dies das erste Mal, dass er sie berührte. Und zum ersten Mal wirkte er geradezu ängstlich.
Carrie wusste nicht, was sie schrecklicher fand: die Lebensumstände dieser Frau oder die Tatsache, dass sie ihren einzigen Sohn verloren hatte. Seit der Tat stand sie unter Beruhigungsmitteln, die ihr der Hausarzt verschrieben hatte, doch auch nachdem sie sich vier Tage lang mit Valium vollgepumpt hatte, war sie noch immer nervös. Sie war wütend, geradezu hysterisch, und als der Kameramann die Fotos ihres Sohnes auf dem Kaminsims filmte, schlug sie nach ihm.
»Jimmy war mein Leben«, heulte sie, zusammengesunken auf dem dreckigen Teppich, der nass von ihren Tränen war. Zwei Boxer und eine Art Kampfhund ließen sich neben ihr nieder. Sie schienen ihren Kummer zu verstehen.
»Mrs Plummer, mein tiefstes Beileid zu Ihrem Verlust. Der Schmerz, den Sie empfinden, lässt sich gewiss kaum in Worte fassen.«
Seit der Tat vor vier Tagen stand Jimmy Plummers Geschichte auf allen Titelseiten. Sie las sich beinahe wie ein Drehbuch. Nach dem Fußballtraining war er durch die Siedlung nach Hause geradelt, da sah er auf der Straße einen alten Mann, der zusammengeschlagen worden war. Jimmy hielt an, um ihm zu helfen. Sein Handy zeigte an, dass er einen Rettungswagen gerufen hatte. Die Frau in der Leitstelle hatte mitbekommen, wie die Bande, die den Mann niedergeschlagen hatte, zurückkehrte und mehrmals auf Jimmy einstach.
Carrie setzte sich, auch wenn es ihr widerstrebte. Schließlich wurde alles gefilmt, da hätte es einen schlechten Eindruck gemacht, wenn sie über das versiffte Sofa die Nase gerümpft hätte. Ihren Rock konnte sie ja nachher in die Altkleidersammlung geben.
»Erzählen Sie mir etwas über Jimmy, Mrs Plummer. Er spielte gern Fußball, nicht wahr?«
Langsam hob die trauernde Mutter den Kopf. Ihr Gesicht war verquollen, die Wangen gerötet, das Haar hing ihr in fettigen Strähnen in die Stirn. Außer der Mutter sollten noch ein paar von Jimmys Freunden bei der Liveshow anwesend sein und über das Bandenunwesen in ihrem Viertel reden. Dennis wollte eine Rekonstruktion des Falles beitragen. Die üblicherweise schon phantastisch hohen Anruferzahlen würden diesmal alle Rekorde brechen. Und dafür durfte bei diesem Interview nicht das Geringste schiefgehen. Schließlich waren es die Besuche bei den Menschen zu Hause, die Reality Check so einzigartig machten.
»Jimmy war eben Jimmy«, sagte Mrs Plummer und richtete sich auf. »Er war vierzehn, spielte gern Fußball und war gut darin. Sein Fahrrad war sein Ein und Alles, und er liebte Dollar.« Sie legte ihre Hand auf den hässlichsten der drei Hunde. »Und außerdem ging er zur Schule. War nicht vorbestraft oder so.«
»Gehörte Jimmy einer
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