Der fremde Sohn (German Edition)
Anwesen. Meine Familie lebt seit dreihundert Jahren auf Kinlochburn Hall.«
Er nahm ihre Hand und erklärte ihr, dass er für einen Teil des Jahres in der Hütte lebe, weil er die Einsamkeit brauche. Und plötzlich spürte sie seinen Mund auf ihren Lippen.
Noch während er sie küsste, sah sie die Schlagzeilen der Boulevardpresse vor sich: Carries heimliche Liebschaft … Reality-Check -Star beim One-Night Stand ertappt … Kents heimlicher Lover packt aus …
Trotz dieser Gedanken zuckte sie nicht sofort zurück. Eine innere Stimme zählte all die Gründe auf, weswegen sie nach Schottland gekommen war – allein sein, entspannen, Stress abbauen, allem entfliehen, neue Kräfte sammeln –, doch je enger sich sein Körper an sie presste, desto mehr wankte sie in ihrem Entschluss.
»Stopp!«, stieß sie endlich hervor und rang nach Luft. »Das geht nicht. Wissen Sie denn wirklich nicht, wer ich bin?« Ihr war bewusst, wie albern das klang. Einen Augenblick lang musste sie an Brody denken und erinnerte sich mit einem Anflug von Bedauern an ihre erste leidenschaftliche Liebesnacht, die schon eine gefühlte Ewigkeit her war.
»Doch, das haben Sie mir ja gerade gesagt. Und Sie wissen auch, wer ich bin. Dann sind wir ja jetzt quitt.«
O nein, das sind wir nicht.
Wieder zog er sie an sich, um sie zu küssen.
»Und dann stellt sich heraus, dass er nicht mal einen Fernseher besitzt«, berichtete Carrie Leah kurz vor Beginn der Sendung. »Stell dir mal vor, und das in diesem riesigen Herrenhaus. Er hatte also tatsächlich keine Ahnung, wer ich bin.«
Kopfschüttelnd warf Leah einen Blick über den Rand ihrer Brille und verkniff sich ein Lächeln. »Und du willst mir allen Ernstes weismachen, dass du nicht mit ihm geschlafen hast?«
»Nichts dergleichen. Aber wir sind zusammen schwimmen gegangen. Und angeln. Und dann haben wir unseren Fang gebraten und gegessen. Wir sind gewandert, und er hat mir das große Haus gezeigt.«
»Ich dachte, du wolltest allein sein.« Leah reichte ihrer Assistentin im Vorbeigehen einige Unterlagen.
Carrie wollte sich rechtfertigen, doch dafür blieb ihr keine Zeit mehr. Nach kurzem Zögern trat sie auf die Bühne hinaus. Das Studiopublikum applaudierte. Sie blickte in den Zuschauerraum – Hunderte von Menschen, und alle waren hier, um sie zu sehen.
Und plötzlich traf es sie wie ein Schlag in die Magengrube, an einer so empfindlichen Stelle, dass der Schmerz ihr bis in die Kehle fuhr.
Es stimmte. Sie hatte tatsächlich vollkommen allein sein und die Einsamkeit genießen wollen, so wie Jason McBride es jedes Jahr für ein paar Monate tat. Im Grunde hatte sie ihr Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt. Aber ob sie nun auf Sendung war und von Millionen von Zuschauern gesehen wurde oder sich nur in der Gesellschaft eines einzigen Menschen befand – Carrie Kent war immer allein.
Herbst 2008
W as soll das denn bitte schön heißen – nein?« Carries Stimme klang schrill und gepresst, sie war es nicht gewohnt, zurückgewiesen zu werden. Das Handy an ihrem Ohr fühlte sich heiß an. Durch das Glas der Windschutzscheibe verstärkt, wärmte die Sonne ihre rechte Wange. Der Motor lief im Leerlauf, ihr Fuß schwebte knapp über den Pedalen, bereit, Gas zu geben. Doch er hatte nein gesagt. Also brauchte sie offenbar gar nicht loszufahren.
»Hör mal, Dennis …« Gott, wie sie diesen Namen hasste. Er erinnerte sie an Strickjacken und Golf. »Detective Chief Inspector«, versuchte sie es noch einmal. »Der Termin steht seit über einer Woche fest. Das Filmteam ist bereit. Ich muss einen Sendeplatz füllen, eine Show produzieren.« Carrie fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Diese Familie war zurzeit der Renner. Sie musste unbedingt mit den Leuten sprechen, denn in ein paar Tagen war womöglich alles vorbei. Oder schlimmer noch, jemand schnappte sie ihr weg.
»Hör zu, Dennis. Wenn du nicht bis morgen früh halb elf eine neue Messerstecherei für mich arrangieren kannst, muss ich mir einen anderen netten Polizisten su–«
Sein bitteres Lachen dröhnte durchs Telefon. Dann, nach kurzem Schweigen: »War nur ein Scherz.«
Sie stutzte. »Was?« Wütend trat sie aufs Gaspedal und rief: »Vollidiot!«, dann ließ sie das Handy zuschnappen und warf es auf den Beifahrersitz.
Selbst an diesem kühlen Tag war es heiß und stickig im Auto. Carrie saß neben DCI Dennis Masters, der den Wagen steuerte. Er hatte die Sirene eingeschaltet, weil er wusste, dass es ihr gefiel. Hinter Carrie auf dem
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