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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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einfach, und das musste man akzeptieren. Das Haus, für das sie sich seinerzeit entschieden, lag in einem aufstrebenden Viertel im Norden Londons und hatte einen Garten mit einem Apfelbaum darin. Sie hatten lange für die Anzahlung sparen müssen und besaßen bei ihrem Einzug nichts als eine Matratze zum Schlafen und ein wenig Geschirr. Aber es war ein Heim, es gehörte ihnen, und es war vollkommen. Brody saß jeden Tag stundenlang an der Arbeit, oft bis in die Nacht, studierte, forschte und bereitete die Vorlesungen vor, die er an der Universität hielt. Mit internationalen Publikationen erwarb er sich einen hervorragenden Ruf als Experte für Statistische Theorie.
    Zwei Jahre später kam Max zur Welt, gerade als Professor Brody Quinell eine hochdotierte Stellung an der Royal London University angeboten bekam. Sechs Jahre später war er blind und wenige Monate darauf geschieden.
    Seitdem hatte er nur wenige Male mit seiner Exfrau gesprochen, aber gehört hatte er sie. O ja, er hatte sie gehört.
    Es war Morgen geworden. Er erkannte es an der Wärme auf seinem Gesicht. Es kam ihm vor, als habe er eben noch einen Blick auf Max, auf die Vergangenheit geworfen – in einer Art geistigem Fotoalbum voller kostbarer Erinnerungen geblättert –, und dann war er wohl eingeschlafen. Verdammt, wie er so etwas hasste! Er war noch vollständig angezogen, und auf seinem Bauch stand der Aschenbecher. Seine Füße waren kalt. Jemand hämmerte an die Tür.
    »Brody, Brody, bist du da drin?«
    Er erkannte Fionas Stimme. Am liebsten wäre er liegen geblieben. Sie hatte einen Schlüssel, aber er legte immer die Sicherheitskette vor. Jugendliche Rüpel liefen manchmal durchs Haus und traten zum Spaß Türen ein. »Komme schon!«, brüllte er und richtete sich mühsam auf. Sein Rücken war ganz steif. In der Wohnung über ihm polterte jemand auf den Fußboden. Hör mit dem Krach auf, verdammt noch mal!
    Brody ließ Fiona herein. Er hatte sich schon alles zurechtgelegt. »Heute gehen wir wieder essen.« Es war eine Feststellung.
    »Bitte nicht wieder in dieses Lokal.«
    Er wusste, Fiona wäre lieber mit ihm auf ein Panini-Sandwich in das neue Edelrestaurant gegangen oder in Sebastians Bistro über dem Musikgeschäft oder sogar zu McDonald’s. Schließlich war er nicht für alles blind.
    »Nein, nein, nein«, wehrte sie noch einmal ab.
    »Das heißt also, ja.« Er bemerkte ihr neues Parfum. Es war würzig und süß zugleich. Was, wenn Max recht hatte und sie wirklich auf ihn stand? Er wusste instinktiv, dass Max bei der Aussicht, Fiona könnte seine Stiefmutter werden, einen Heidenaufstand machen würde, obwohl es objektiv betrachtet gar keinen Grund dafür gab. Der Junge war der Meinung, dass Fiona seine Mutter verdrängt hatte, und hatte sie von Anfang an gehasst. Fiona dagegen sah keinen Anlass, Max abzulehnen. Sie kaufte ihm Weihnachtsgeschenke, schickte ihm Geburtstagskarten und war immer freundlich zu ihm, wenn sie sich begegneten, was nicht oft vorkam.
    »Ich brauche eine Dusche«, erklärte er.
    »Allerdings.«
    Er ließ sie im Wohnzimmer sitzen, wo Max seit ihrem letzten Besuch aufgeräumt hatte. Der Junge hatte die schmutzigen Kleidungsstücke aufgesammelt und die CD s wieder in ihre Hüllen gesteckt. Max war der Einzige, dem er Zutritt zu seiner Wohnung gestattete. »Wenn du wüsstest, wie es hier aussieht, würdest du niemanden mehr hereinlassen und nicht einmal selbst einen Fuß hineinsetzen«, hatte Fiona schon mehrmals angemerkt.
    Das Wasser lief ihm über den Körper. Brody wusch sich rasch und überlegte dabei, ob er jetzt wohl viel älter aussah als damals, als er sich selbst zum letzten Mal deutlich gesehen hatte. Er konnte sich noch genau an den Anblick erinnern, der ironischerweise keineswegs deutlich gewesen war. Er stand mit dem lachenden Max vor den Zerrspiegeln auf der Kirmes, und sein Rumpf sah aus, als sei er drei Meter breit, mit einem winzigen Kopf und Stummelbeinen. Schon damals hatte Brody gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sein Sohn sprang herum und kicherte darüber, wie lustig sein Vater aussah. Eine schöne letzte Erinnerung an mich selbst, dachte Brody, während er das Wasser abdrehte und sich mit beiden Händen über das Haar strich. Ein eingefrorener Augenblick.
    Eilig trocknete er sich ab und zog frische Sachen an. »Nimm sie immer von links«, sagte Fiona jedes Mal, wenn sie die Wäsche aus der Wäscherei im Schrank verstaute. »Wenn du Hose und Hemd von links nimmst, dann passen sie zusammen.

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